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Archiv-Artikel

Ins Land geschmuggelt

43 Jahre NRW: Weil die Gemeinde Selfkant bis 1963 zu den Niederlanden gehörte, wird der 60. Geburtstag Nordrhein-Westfalens hier nicht wirklich gefeiert. Düsseldorf ist weit weg – die Zwitterregion war sich schon immer selbst genug

AUS SELFKANTKLAUS JANSEN

In der Nacht der Nächte hat Herbert Corsten viel Geld verdient. Er hat Konservendosen und Kaffeepakete verladen, bis sich die Lebensmittel bis unter das Dach der Scheune stapelten. 14 Mark die Stunde gab es dafür. Sehr viel Geld für den 13-jährigen Sohn eines Postbeamten. Unfassbar viel Geld, im Jahr 1963. Doch für Corstens Arbeitgeber war der Lohn gut angelegt: Es gelang der perfekte Schmuggel. Denn am Abend des 31. Juli 1963 gehörte der Selfkant noch zu Holland – und am nächsten Morgen war er deutsch. Der Zoll konnte umgangen werden, ohne die Ware auch nur einen Zentimeter weit zu bewegen.

Herbert Corsten ist wenige Jahre später selbst Zollbeamter geworden. Jetzt ist der schnauzbärtige Mitfünfziger Bürgermeister der Gemeinde Selfkant, der Christdemokrat hat die Direktwahl gegen den Kandidaten der eigenen Partei gewonnen. Corsten regiert ein Gebiet mit 10.000 Einwohnern, das auf der Landkarte wie ein Katzenkopf in das Territorium der Niederlande hineinragt. Selfkant ist die westlichste Gemeinde Deutschlands. Viele Bauernhöfe, schmucke Einfamilienhäuser, der „umsatzstärkste Aldi westlich des Rheins“, wie der Bürgermeister stolz sagt. Vor allem aber Felder, viele Felder. In den Nachbarstädten erzählt man Kindern, dass kurz hinter dem Ortsschild der ländlichen Gemeinde ein großer Bretterzaun komme – und dahinter das Nichts. „Wir sind keine Sonderlinge, aber besonders“, sagt Herbert Corsten. Besonders auch, weil der Selfkant als einer von wenigen Orte in diesem Jahr nicht die 60-jährige Zugehörigkeit zum Land Nordrhein-Westfalen feiern. Er gehört eben erst 43 Jahre dazu.

Herbert Corsten steuert seinen schweren Audi über schmale Feldwege durch die Sommerhitze. Am Wegrand wechseln sich Mais und Getreide ab. Auf dem Beifahrersitz sitzt Jakob Calls: „Eigentlich ist hier für Autos gesperrt. Aber in besonderer Mission dürfen wir hier langfahren“, sagt er. Calls trägt eine Schirmmütze über seinen etwas schütteren, weißen Haaren. Er ist 78 Jahre alt, 53 davon hat er im Selfkant gelebt. Kaum einer kennt die Region so gut wie er, der hier lange Zeit Grundschullehrer war und sich im Heimatverein engagiert. Jetzt lotst er den Bürgermeister durch die verschiedenen Dörfer, aus denen sich seine Gemeinde zusammensetzt: Ein Lokalpatriot, der durch sein Allerheiligstes führt.

„Hier unter dem Feld, eine Römersiedlung.“ Fast 2.000 Jahre alt, eine alte Raststation auf der römischen Handelsroute von Maastricht nach Xanten. Jakob Calls hat seine Schulkinder früher nach Überbleibseln aus der Römerzeit suchen lassen. Heute ist alles überwuchert. „Hier, die Kirche von Millen.“ Tausend Jahre alt, gestiftet von einem alten Rittergeschlecht. Dann eine kurze Pause: „Da rechts, da war der Schlagbaum. Und hier das deutsche Grenzhäuschen. Und hier das holländische.“ Wo früher Pässe geprüft wurden, stehen heute Wohnhäuser. Dass hier einmal eine Grenze verlief, ist nicht zu sehen.

Nach dem zweiten Weltkrieg war Selfkant – wie auch das münsterländische Elten – als Kriegsentschädigung unter niederländische Verwaltung gestellt worden. Die Gemeinde bekam nach 1949 eine Zwitterrolle: Die Niederlande sorgten für die Gesetzgebung, Deutschland behielt die Aufsicht über Schulen und Kirchen. Wer wollte, durfte seinen deutschen Pass behalten – oder sich einen niederländischen besorgen. „Word als Nederlander behandelt“, stand im Pass von Jakob Calls. Er fand das gut so.

Besetzt oder verkauft fühlten sich die Selfkanter nie – und das nicht nur, weil sie sich ohnehin als eigenes Völkchen betrachten. „Kulturell gehören wir zum Maasland. Wir sprechen den gleichen Dialekt wie die Limburger auf der niederländischen Seite.“ Nur eine Stadt weiter nach Osten versteht das Selfkanter Platt niemand mehr. „Unsere Bezugspunkte sind Aachen und Maastricht. Wir sind das Herz Europas“, sagt Calls. Bielefeld oder Oberhausen? Damit kann er wenig anfangen. „Rheinland, das geht noch. Wegen Karneval und der ganzen Mentalität“, sagt Bürgermeister Herbert Corsten. „Aber Westfalen? Das ist Ausland.“ Auch wenn Corsten betont, sich „NRW irgendwie zugehörig“ zu fühlen.

Die Selfkanter haben es sich gemütlich gemacht in ihrem Katzenkopf zwischen den Niederlanden und Deutschland. Sie haben von beiden Seiten immer das Beste mitgenommen – auch während der niederländischen Verwaltung. „Die Holländer haben uns die Straßen geteert, und aus Deutschland gab es neue Kirchturmglocken und Orgeln. Uns ging es besser als den Nachbarn auf der anderen Seite der Grenze“, sagt Calls. Beide Länder fürchteten eine Volksabstimmung – und wollten die Sympathien der Dorfbewohner gewinnen. „Wenn man hätte abstimmen lassen, wären wir wohl Zwitter geblieben“, sagt Bürgermeister Corsten. Doch dazu kam es nie: Nach langen und schwierigen Verhandlungen kaufte Bundeskanzler Konrad Adenauer den Selfkant und Elten für 280 Millionen Gulden von den Niederlanden zurück.

Den Niederländern blieb nur eine Transitstraße: Von Norden nach Süden durchschnitt sie die Gemeinde Selfkant, Auffahrten von deutscher Seite gab es nicht. Interessant war die Straße trotzdem – für deutsche Drogenhändler: Ein Päckchen in den Straßengraben geworfen, fertig war der Grenzübertritt. „Hier wurde immer geschmuggelt. Früher waren es eben Kälber, Eier und Getreide“, sagt Heimatforscher Calls.

Seit 2002 ist die Transitstraße auch von Deutschland aus befahrbar. Der ADAC und die Politik hatten so lange in Den Haag gequengelt, bis die niederländische Regierung die Strecke freigab. Und die Auf- und Abfahrten werden genutzt – vor allem von niederländischen Einkäufern. Der Parkplatz vor dem umsatzstärksten Aldi westlich des Rheins ist von gelb-schwarzen Autokennzeichen dominiert. Drinnen schieben niederländische Familien, niederländische Jungs in Badehosen und niederländische Omas die Einkaufswagen umher. Seit einigen Jahren werden hier auch niederländische Kreditkarten angenommen – seitdem ist der Run auf billige Lebensmittel riesig. „Einmalig, zweisprachig, vielseitig“, lautet der Werbespruch auf der Homepage der Stadt. Doch an der Kasse gibt es Probleme: „Sie können die Bananenkiste nicht mitnehmen. Wir brauchen die hier. Nehmen sie eine Tüte“, erklärt die Kassiererin auf Deutsch einer tätowierten Niederländerin. Die guckt kurz verdutzt – und macht sich mit der Kiste von dannen.

Das Missverständnis beschreibt nicht den Regelfall. Die meisten Selfkanter sprechen Niederländisch. Immerhin 20 Prozent der Bewohner kommen aus dem Nachbarland. Und es werden mehr: Weil in Deutschland Bauland billig ist, ziehen viele Niederländer herüber und pendeln zur Arbeit ins größere Sittard wieder zurück über die Grenze. „Wir werden immer mehr zu einer Schlafstadt“, sagt Bürgermeister Corsten. Viel lieber hätte er es, wenn Selfkant statt einer Schlafstadt ein Touristenziel würde. Mit den Städten List im Norden, Oberstdorf im Süden und Görlitz im Osten hat sich Selfkant deshalb ein besonderes Marketingkonzept ausgedacht: den Zipfelbund. Beim Tag der deutschen Einheit treten die vier Gemeinden gemeinsam als 17. Bundesland auf. Und wer als Tourist innerhalb von vier Jahren jeden der vier Orte besucht, erhält ein Geschenk. Selfkant spendiert niederländische Holzschuhe.

Selfkant will noch mehr Urlauber anziehen. Deshalb sollen jetzt Bäche renaturiert und auch die ehemals größte Attraktion der kleinen Gemeinde wieder aufgepäppelt werden: Aus der Brache des ehemaligen Safariparks in Tüddern – einst der erste seiner Art in Deutschland – soll ein Naherholungsgebiet werden. Mit Naturlehrpfad und einem kleinen See. Wenn es denn der Haushalt der Gemeinde zulässt.

Überhaupt der Haushalt. Der ist auch offiziell der Grund dafür, dass Selfkant den Feiern zum Landesjubiläum in Düsseldorf fernbleibt. „Wir haben die Einladung bekommen, uns auf der Rheinpromenade zu präsentieren. Aber das hätten wir selbst bezahlen müssen“, sagt Bürgermeister Corsten. Ein Kirchenchor wird fahren. Das soll reichen.