Hier stimmt nichts

Jedes Jahr wird im französischen Dorf Moncrabeau der König der Lügner gekürt. Der aussichtsreichste Kandidat ist allerdings auch dieses Jahr wieder nicht angereist – dabei wäre Jacques Chirac eindeutig der Beste

„Natürlich belüge ich meine Frau ab und zu“, sagt der Gemüsebauer,Mitglied der Lügnerakademie, „wie sollte es sonst sein?“

AUS MONCRABEAU DOROTHEA HAHN

Gut gelogen. Pierre I. bekommt die goldglänzende Krone. Dazu eine blecherne Trophäe. Und ein papiernes Diplom. Für ein Jahr ist er „Lügnerkönig“ in der Französischen Republik – auserkoren von den Frauen und Männern der „Lügnerakademie von Moncrabeau“. Vier „académiciens“ in bodenlang wallenden rot-weißen Mänteln balancieren ihren neuen König „Pierre I.“ – im bürgerlichen Leben verrenteter Arbeiter der Wasserreinigung – auf einem Holzstuhl auf Kufen über ihren Schultern durch die Straßen des Dorfes. Musikanten blasen und trommeln auf Fantasieinstrumenten. Das Publikum, das stundenlang mucksmäuschenstill auf Plastikstühlen auf dem überdachten Marktplatz gesessen und Lügengeschichten gelauscht hat, klatscht im Takt. Der Bischof, der Dorfpfarrer, der Bürgermeister und drei Parlamentsabgeordnete mitten drin. Am Ende der Zeremonie hält ein Regionalpolitiker eine kurze Ansprache. Wie alle Anwesenden weiß er, dass es im Grunde um Leute wie ihn geht.

Moncrabeau im Herzen der Gascogne ist tiefes Frankreich. Vor dem Rathaus flattert die Trikolore. In Gehöften rundum stopfen alte Frauen die Gänse noch per Hand. Und brennen Bauern den weltberühmten Weinbrand Armagnac. In der Vorschule und der Grundschule werden die Kinder rar. In der Kirche wird nur alle paar Wochen eine Messe zelebriert. Das Hotel macht im Winter zu. Und in frisch geharkten Gärten duften Rosen.

Was das 800-Einwohner-Dorf anders macht als alle anderen, ist sein spielerischer Umgang mit der Wahrheit. Moncrabeau – zu Deutsch: Berg der Ziegen – feiert öffentlich, was sonst streng geheim ist. Jedes Jahr am ersten Sonntag im August richtet es einen „Lügnerwettbewerb“ aus. Teilnehmer müssen sich auf einen angeblich jahrhundertealten steinernen „Lügnerthron“ setzen und eine Geschichte erzählen. Müssen den „Stein der Wahrheit“ küssen. Und schwören, „jederzeit und allerorts“ die Wahrheit zu verdrehen. Ihre Zuhörer sind eine Ziege mit rot-weißen Schleifen an den Hörnern. Die rot-weiß gekleideten Mitglieder der Lügnerakademie – vierzig an der Zahl, wie in der „Académie Française“, die seit 1634 über Wohl und Wehe der französischen Sprache entscheidet. Sowie mehrere hundert Anwohner und Sommergäste, die Eintritt zahlen und jedes Jahr zahlreicher werden. Stimmberechtigt sind allein die vierzig „académiciens“. Nach jeder neuen Lügengeschichte schaufeln sie zwischen zwei und zehn Löffel grobkörniges Salz in einen Sack. Der Lügner, der am Ende den schwersten Salzsack hat, ist König.

Pierre I. erzählt an diesem Sonntag, wie er in einem chinesischen Dorf ein Mittel gegen die Vogelgrippe entdeckt hat. Seine Mitstreiter lügen Geschichten über den lokalen Volkssport Rugby, über die angeblich von der EU gewollte Wiedereinführung von Bären in den benachbarten Pyrenäen und über ein Öl-Wasser-Tauschgeschäft zwischen Frankreich und Algerien zusammen. „Hier leben Bauern“, erklärt der diesjährige „Lügnerkönig“ Pierre Gallio, „denen kann man nicht mit Poesie und Philosophie kommen.“ Seine Geschichte hat er schon vor vor sechs Monaten aufgeschrieben und danach immer weiter verfeinert. Lügen ist eine ernsthafte Angelegenheit.

Im Vergleich zu dem, was in der mehr als 500 Kilometer entfernten französischen Hauptstadt gelebt wird, nehmen sich die Lügengeschichten von Moncrabeau harmlos aus. Französische Politiker haben heimliche Zweitfamilien, bedienen sich und ihre Parteien aus dem Staatssäckel und lassen notfalls Wolken mit nuklearem Fallout an den Landesgrenzen kehrtmachen. Die Franzosen zucken darob mit den Schultern. Als ob ein Naturgesetz für einen Zusammenhang zwischen Politik und Lüge sorgte. Oder umgekehrt.

Die Lüge ist fester Bestandteil des öffentlichen Lebens. In Frankreich kennen schon Schulkinder den Fachbegriff für zwanghafte Lügner, der andernorts allenfalls Psychiatern geläufig ist: „Mythomanen“. Zwanghafte Lügner schaffen es auch immer wieder in die Schlagzeilen. Als vor knapp zwei Jahren eine junge Frau behauptete, sie sei in der Pariser S-Bahn Opfer eines antisemitischen Attentats geworden, protestierte umgehend die komplette Spitze der Republik. Später stellte sich heraus, dass die junge Frau alles erfunden und selbst ihren Bauch bekritzelt hatte. Und die Republik kehrte achselzuckend zum Alltag zurück. Mythomanie sei leider keine ganz seltene Krankheit, erklärten damals die Medien.

Der Sprecher der Lügnerakademie, Gilles Capot, nennt den Wettkampf in seinem Dorf ein „Augenzwinkern an die Politiker“. Aber er will seine „Lügenkönige“ auf keinen Fall mit „professionellen Lügnern“ verwechselt wissen. Capot unterscheidet zwischen „Lügen“ – wie sie Politiker machen – und „Lügengeschichten“ – wie sie in Moncrabeau auf dem Programm stehen. „Bei uns geht es um Humor und Unterhaltung“ versichert er: „Echte Lügen können weh tun.“

Wenn jemand in Frankreich allzu vollmundige Ankündigungen macht, heißt es: „Das sind Versprechen eines Gascon.“ Im Herzen der Gascogne hält die Friseuse von Moncrabeau dagegen: „Wir lügen hier nicht mehr als anderswo.“ Seit 16 Jahren ist sie Mitglied der Lügnerakademie. Vor den Spiegeln in ihrem Salon stehen Miniaturen des steinernen Lügnerthrons vom benachbarten Dorfplatz. Von sich selbst sagt die Friseuse: „Ich lüge nicht. Ich arrangiere nur manchmal die Wahrheit.“ Ihre Freundin, Postbotin und ebenfalls Mitglied der Lügnerakademie, erklärt mit Augenzwinkern: „Im Dienst lüge ich nie.“ Das komme allenfalls im Privatleben vor – „und auch da nur, um nicht weh zu tun“. Eine Straße weiter behauptet die Bäckerin von Moncrabeau, ohne rot zu werden: „Ich habe gar keine Zeit, zu lügen“. Ein Moncrabelaiser Gemüsebauer, ebenfalls „académicien“, versucht es anders herum. „Natürlich belüge ich meine Frau ab und zu“, sagt er, „wie sollte es sonst sein?“

Wer aber auf den Straßen des Dorfes, das jedes Jahr einen neuen Lügner krönt, nach den besten Lügnern des ganzen Landes fragt, erhält als Antwort die Namen von Staatspräsidenten. „François Mitterrand war der Stärkste in allen Disziplinen“, meint der konservative Abgeordnete Jean Dionis du Séjour. Der 1996 verstorbene sozialistische Präsident hat seinen Landsleuten, die ihn nie darum gebeten hatten, regelmäßig Bulletins über seine Gesundheit geliefert – von Anfang an verheimlichte Mitterrand darin seinen Krebs. Er hat ihnen auch lange seine Jugendtätigkeit im Kollaborateursregime von Vichy verschwiegen. Sowie seine außereheliche Tochter Mazarine. Sein rechtsliberaler Amtsvorgänger Valéry Giscard d’Estaing hat sich mit einem lange bestrittenen Diamantengeschenk von Jean-Bedel Bokassa, dem Kaiser der Zentralafrikanischen Republik, in lügnerischer Erinnerung gehalten.

Doch der meistgenannte „Lügner Frankreichs“ ist der jetzige Staatspräsident Jacques Chirac. „Er ist vermutlich der Beste“, meint lachend der Biomarmeladenhersteller Xavier Jordan. Im aprikosefarbenen Stoffhut und Hemd verkauft Jordan auf dem Markt von Moncrabeau seine Marmeladen und eingelegten Kapern. Er ist Gaullist wie Chirac – „das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle“ – und wie die Mehrheit seiner Landsleute davon überzeugt, dass ihr Präsident jede Menge Geheimnisse hat: vom Geld bis hin zur Politik. Mit einem Anflug von Bedauern sagt der 75-jährige Jordan über sich selbst, dass er nicht gut lügen könne: „Vor allem Frauen gegenüber sage ich leicht, was ich denke.“

1973 hat er den Lügnerwettbewerb von Moncrabeau in seiner jetzigen Form mit gegründet, „um den Ort ins Gespräch bringen“. Zusammen mit einem Radikalsozialisten aus dem Dorf erfand er auch die rot-weißen Kostüme. Später kamen internationalen Kontakte dazu. Wie der zu den „Molons“ in der belgischen Stadt Namur, oder der nach Vellberg bei Stuttgart, die ebenfalls alljährlich Lügner dekorieren. Heute erfahren Touristen, die Moncrabeau auf dem beschrifteten und bebilderten „Lügnerweg“ besichtigen, dass die Ursprünge des örtlichen Wettkampfes bis 1748 zurückreichen. Aber die Tafeln des „Lügnerweges“ erzählen auch von einem Überseehafen in dem weit vom Meer entfernt gelegenen Ort und von einem Besuch der englischen Queen im Rathaus des Dorfes.

Dorfpfarrer Michel Olivié, der alljährlich den Lügnerwettkampf mit einer Messe eröffnet, sagt: „Ich bin stolz, der Pfarrer des einzigen Lügnerdorfes von Frankreich zu sein.“ Und liefert auch gleich eine Erklärung, warum Franzosen nicht nein sagen können: „Wir sind romanisch. Wir wollen gefallen.“ In diesem Jahr ist erstmals auch der Bischof aus Agen zum Lügnerwettkampf angereist. Am morgen mahnt Bischof Hubert Herbreteau in orangefarbener Festkleidung vom Altar aus: „Lasst uns nicht vergessen, dass wir alle Sünder sind.“ Abends, als die Krönung des „Lügnerkönigs“ schon vorbei ist und Pierre I. durch das Dorf getragen wird, philosophiert der längst Zivilkleidung tragende Bischof über die Frage: „Was ist Wahrheit, was ist Lüge?“ Eine von weither zum Lügnerwettkampf angereiste Dame mit Hündchen macht ihm das Kompliment, „für einen Pfarrer“ sähe er adrett aus. „Ich bin kein Pfarrer, sondern der Bischof“, entgegnet Hubert Herbreteau. „Haha“, sagt die Dame wie aus der Pistole geschossen, „das ist eine Lüge.“

Marmeladenhersteller Jordan war einmal auch mit einer Delegation aus der Gascogne in Vellberg beim dortigen Lügnerfestival. Er hat dort über sich als Hirten fabuliert, der seine Ziegen zum Fressen auf die Bäume schickt. Jordan ist in Frankreich geboren, aber sein Vater war Schweizer, und er ist überzeugt, daß Lügen keine französische Spezialität ist: „Es gibt überall auf der Welt exzellente Lügner.“