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Archiv-Artikel

Mathematik mit Gefühl

80er trifft 90er Einstürzende-Neubauten-Chef Blixa Bargeld und Carsten Nicolai alias Alva Noto haben sich zum Synthie-Duo zusammengetan. Als ANBB erkunden sie den gemeinsamen Raum von Elektronik und Stimme

Ein Großteil der Arbeit sei die „Suche nach einer möglichen Arbeitsform“ gewesen

VON TIM CASPAR BOEHME

Seit Synthesizer im Pop ihren festen Platz behaupten, gibt es auch das Synthie-Duo als Band-Format. Soft Cell oder Blancmange gehörten zu den ersten ihrer Art, die Pet Shop Boys wurden zum langlebigsten Zweiergespann im Synthie-Pop. Stimme und Elektronik sind als Kombination längst so klassisch wie das Streichquartett.

Für Blixa Bargeld, Sänger der Einstürzenden Neubauten, hat das einen einfachen Grund: „Zusammen vor einem Computermonitor zu sitzen und irgendwelche Klötze nach links oder rechts zu schieben, ist keine Arbeit für eine Band. Das kann maximal ein Duo sein.“ Bargeld weiß, wovon er spricht. Neben seiner Stammgruppe, mit der er vorübergehend auch elektronisch arbeitete, hat er seit Kurzem ein neues Projekt mit dem Elektroniker und Künstler Carsten Nicolai alias Alva Noto. Sie nennen sich kurz ANBB. Und auch wenn sie nicht unbedingt Synthie-Pop machen, loten sie mit ihrem Debüt sehr genau die Möglichkeiten des Miteinanders von analoger Stimme und digital erzeugten Klängen aus.

Wer ihre bisherigen Arbeiten kennt, kann sich nur wundern. Blixa Bargeld ist seit Jahrzehnten als Mann mit Sinn für maximale Expressivität vertraut. Carsten Nicolai dagegen ist einer der Gründer des experimentellen Labels Raster-Noton, dessen Veröffentlichungen für rhythmische Brummabstraktionen stehen. Er konzentriert sich in seiner Musik auf „Millisekunden und Frequenzen“. Zwei ästhetische Strategien, die kaum zueinander passen wollen. Allerdings kennen sich beide schon seit den 1990ern. Zusammen Musik zu machen, hatten sie schon lange vor. Für ihr Album „Mimikry“ mieteten sie ein echtes Studio.

Die einsamste Zahl

„Ich sehe das fast schon metaphorisch, dass man einen Raum braucht, um sich zu treffen. Die Stimme braucht den Raum, aber die Elektronik muss in dem gleichen Raum passieren, dass das zusammenkommen kann“, sagt Nicolai. Über ein Jahr gingen Bargeld und Nicolai immer wieder ins Studio. Sie probierten vieles aus, von Suite-artigen Elektronikepen bis hin zu spartanischen Coverversionen. Ein Großteil der Arbeit am Album habe dabei in der „Suche nach einer möglichen Arbeitsform“ bestanden, so Blixa Bargeld.

Zumindest in einem Fall ist dabei tatsächlich so etwas wie Synthie-Pop herausgekommen. In ihrer Version des Harry-Nilsson-Klassikers „One“ singt Bargeld zart und fast fragil über einem Harmoniegerüst aus Sinuston-Akkorden, einer werkgetreuen Transformation der Pop-Vorlage in ihre elementaren Frequenzen auf Grundlage des Binärcodes. Die „Eins“, die im Song als die „einsamste Zahl“ besungen wird, bekommt so in der Musik die Null zur Seite gestellt. „Es ist eine schöne Schnittmenge, einerseits geht es um Mathematik, andererseits ist es pure Emotion“, erklärt Nicolai. „Das ist symptomatisch für diese Zusammenarbeit, die für viele überraschend ist.“

Überraschend ist auch der Abwechslungsreichtum der Musik, den man von Nicolai so nicht erwartet hätte. Während manche Stücke auf minimalistischen „Skizzen“ aus seinem Rechner beruhen, entstanden andere als Prozess. Man legte Abläufe fest, erprobte sie live und nahm sie auf, um sie dann im Studio zu bearbeiten. „Fall“ zum Beispiel kippt von einer Stimmung in die nächste, um sich zum Schluss mit schlichten Klaviertönen zu verabschieden. Die Ideen für den Aufbau kamen von Bargeld: „Das wächst auf meinem Mist, ich mag dieses Strukturieren sehr.“

Am Türsteher vorbei

Die Texte brechen weitgehend mit der Neubauten-Poesie. Für dieses Projekt wollte Bargeld sich „an den äußeren Rändern der Verständlichkeit“ bewegen, noch abstrakter werden als zuvor. Das ist ihm weitgehend gelungen. Umso erstaunlicher, dass eines der Stücke „Berghain“ heißt und mit Zeilen wie „Am Türsteher vorbei“ aufwartet.

Bargelds Auskunft, es ginge darin „eben über gar nichts“ und er habe sich einfach an einer Liste von Worten abgearbeitet, die er irgendwie verwenden wollte, wirkt ein wenig kokett. Mutmaßungen, er wolle sich kritisch über die Lage der Clublandschaft äußern, widerspricht er entschieden: „Ich war noch nie im Berghain.“ Von solchen falschen Fährten abgesehen, kann man seine Worte als pure Laute genießen, besonders bei Kombinationen wie „Ret Marut Handshake“, dem Titelsong ihrer Vorab-EP. Der Name Ret Marut, ein Pseudonym des Schriftstellers B. Traven, mutiert zum mantraartigen Ohrwurm. Hier gehen Bargelds körnige Stimme und Nicolais digitales Knistern eine nahezu perfekte Verbindung ein, ohne dass darüber in Deutungswut geraten werden muss. Bargeld: „Es ist so unglaublich schwer, Sachen zu schreiben, die nichts bedeuten, und dabei noch unterhaltsam zu sein. Nichts ist ja schlimmer als Avantgardetechniken, die in Langeweile münden.“

■ Die EP „Ret Marut Handshake“ ist bereits erschienen, das Album „Mimikry“ ab Oktober erhältlich