: Zum Abschuss freigegeben
HRANT DINK Der Anwältin des ermordeten Journalisten reicht ein Schuldeingeständnis nicht aus. Sie fordert Konsequenzen
SADULLAH ERGIN, JUSTIZMINISTER
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Fethiye Cetin bleibt auch im größten Trubel ruhig. Angesichts der Meldungen, die türkische Regierung sei dazu bereit, eine Teilschuld an der Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink anzuerkennen, sagt sie als Erstes sachlich: „Vielleicht schaffen wir es ja, dass der Artikel 301, in dem die Beleidigung des Türkentums bestraft wird, ganz abgeschafft wird. Wir wissen es noch nicht, aber für die Familie von Hrant wäre das ganz wichtig.“ Fethiye Cetin, die Anwältin der Familie des ermordeten Journalisten, sagt das ohne jeden Triumph.
Dabei könnte sie sich einen Triumph ruhig gönnen. Seit Jahren versucht sie, die Hintergründe des Attentats aufzuklären. Von ihrem kleinen Arbeitszimmer in den Räumen der Hrant-Dink-Stiftung, gleich neben der Redaktion der türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos, hat sie immer wieder versucht, politisch Verantwortliche vor den Richter zu bringen. Bislang vergeblich. Doch jetzt bahnt sich offenbar eine Wende in einem der spektakulärsten politischen Prozesse der Türkei an – eine Wende, die nicht zuletzt ihr Verdienst ist.
Vor wenigen Tagen war durchgesickert, dass eine Klage, die die Familie von Hrant Dink vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erhoben hat, in ihrem Sinne entschieden werden soll und die Türkei sich auf eine peinliche Verurteilung gefasst machen muss. Dabei geht es um die Einschränkung der freien Meinungsäußerung, das gesetzlich garantierte Recht auf Leben und die Verpflichtung eines Staates, in einem Mordfall korrekt zu ermitteln. Daraufhin machte die Regierung einen Schwenk und ließ erstmals erkennen, dass sie dazu bereit sei, zumindest eine Teilschuld am Tod des bekanntesten armenischstämmigen Journalisten anzuerkennen.
„Ja, der Staat hat es versäumt, Hrant Dink zu schützen. Wir würden gerne eine gütliche Einigung mit der Familie erreichen“, sagte Justizminister Sadullah Ergin. Und Außenminister Ahmet Davutoglu ergänzte in einem Fernsehinterview: „Einmal geht es um den Schutz des Lebens und zum anderen um das Recht auf freie Meinungsäußerung. Der Staat muss in beiden Fällen seine Verantwortung übernehmen.“ Man werde vor dem Straßburger Gericht eine entsprechende Erklärung abgeben.
Hrant Dink wurde am 19. Januar 2007 in Istanbul auf offener Straße erschossen. Er war Chefredakteur der Zeitschrift Agos und ein engagierter Verfechter einer ehrlichen Aufarbeitung der türkisch-armenischen Geschichte. In seinen Artikeln forderte er nicht einfach die Anerkennung des Völkermordes, sondern versuchte den türkischen Lesern den armenischen Anteil an der türkischen Geschichte nahezubringen. Einer seiner Artikel befasste sich damit, dass Sabiha Gökcen, eine berühmte Adoptivtochter des Republikgründers Mustafa Atatürk, armenische Wurzeln hatte.
Wegen solcher Enthüllungen und auf Druck rechtsradikaler, nationalistischer Kreise wurde Dink angeklagt, „das Türkentum“ verunglimpft zu haben. Obwohl er nicht der Einzige war, der wegen Äußerungen zum Völkermord an den Armeniern vor Gericht gezerrt wurde – unter anderem traf es auch den späteren Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk –, war er doch der einzige, der tatsächlich verurteilt wurde. Eine Woche vor seiner Ermordung reichte Dink wegen Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung deshalb eine Klage vor dem Menschenrechtsgerichtshof ein.
Nach Dinks wurde das Verfahren im Namen der Familie fortgeführt und noch erweitert. „Der Staat hat es versäumt, Hrant zu schützen. Und man versucht zu vertuschen, wer die Hintermänner des Mordes sind“, sagt die Anwältin Cetin.
Diese Vertuschung hat nun vielleicht ein Ende. Dabei deutete noch vor zwei Wochen nichts auf eine solche Wendung. So berichteten am 10. August türkische Zeitungen über eine skandalöse Formulierung in der Stellungnahme, die der türkische Staat in Straßburg abgegeben hatte. Um die Verurteilung von Dink wegen „Beleidigung des Türkentums“ zu rechtfertigen, hatten die Juristen des Justizministeriums Dinks Artikel als Volksverhetzung bezeichnet. Diese seien vergleichbar mit Äußerungen des früheren deutschen Neonazis Michael Kühnen, dessen Verurteilung in Deutschland das Menschenrechtsgericht für zulässig befunden hatte. „Justizministerium vergleicht Hrant Dink mit Neonazi“, empörte sich die Presse. Die verantwortlichen Ministerien gaben klein bei und erklärten das Ganze zu einem bedauerlichen Missverständnis. Dann schaltete sich Staatspräsident Abdullah Gül ein. Als erster Repräsentant des Staates deutete er in einem Interview an, dass der Staat die Verpflichtung gehabt hätte, Dink zu schützen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Türkei ein Verfahren in Straßburg mit einer gütlichen Einigung beendet. Zwischen 1959 und 2009 gab es neben den 2.017 Urteilen gegen die Türkei (siehe Grafik) 204 solcher Einigungen – und nur 46 Freisprüche.
Der wäre auch jetzt nicht zu erwarten. Denn der Mord, so viel ist heute klar, war von langer Hand vorbereitet worden. Etliche Stellen in der Polizei, dem Militär und dem Geheimdienst waren informiert. „Wir finden es wichtig, was Abdullah Gül und andere gesagt haben“, meint die Anwältin Fethiye Cetin denn auch. Aber daraus entstünden Verpflichtungen: „Der Präsident und der Justizminister müssen nun dafür sorgen, dass die Verantwortlichen auf die Anklagebank kommen.“
Dort sitzen immer noch als Hauptangeklagte drei junge Leute. Der Todesschütze Ogün Samast war zum Zeitpunkt des Mordes noch unter 18 Jahre alt, seine unmittelbaren Komplizen kaum älter. Alle stammen aus dem nordtürkischen Trabzon und waren Mitglieder einer rechtsradikalen Jugendgang. Es gibt viele Indizien, die auf Anstifter aus rechtsnationalistischen Kreisen deuten – auf Leute, die schon dafür gesorgt hatten, dass Dink angeklagt wurde. Dazu Polizeichefs, Gendarmeriekommandanten und Geheimdienstverantwortliche, die Kenntnis von dem geplanten Mord hatten und nichts taten, um ihn zu verhindern. „Die Familie wird sich deshalb mit einem Schuldeingeständnis ohne weitere Konsequenzen nicht zufriedengeben und weiter auf einer Verurteilung in Straßburg bestehen“, sagt Fethiye Cetin.