Wie in einem Schildkrötenpanzer

FAMILIE Die palästinensische Regisseurin Pary El-Qalqili porträtiert in „Schildkrötenwut“ ihren eigenen Vater. Dass sie sich dabei Lücken und eigene Unsicherheiten zutraut, ist ein Gewinn

Es geht auf dieser Reise hin zu einem nur sehr theoretischen Ursprung

VON LUKAS FOERSTER

Ein Familienfilm: Die deutsch-palästinensische Regisseurin Pary El-Qalqili porträtiert ihren Vater Musa El-Qalqili, der in der Negev-Wüste geboren wurde, in den Sechzigern nach Deutschland kam, dort eine deutsche Frau heiratete, aber keine Ruhe fand. Vier Kinder haben die beiden, zwei von ihnen, Parys Brüder, feierten Erfolge als Leistungssportler – laut Wikipedia sind die El-Qalqilis eine „bekannte Ruderfamilie“.

Von der handelt „Schildkrötenwut“ allerdings nicht; auch nicht, zum Beispiel, von der deutschen Seite der Familie, von der jungen Frau, die einen palästinensischen Flüchtling heiratet und deren Mutter nicht zur Hochzeit kommt. Die Familie eignet sich nicht immer ohne Weiteres dazu, einen Zusammenhalt zu stiften, nicht einmal zwischen den paar Menschen, die ihr angehören.

Pary und ein Filmteam folgen ihrem Vater auf einer Reise zum Ausgangspunkt einer anderen Familiengeschichte: Nach Qalqilia, im Westjordanland, dem Ort, von dem die Familie zwar ihren Namen hat, in dem Musas Vorfahren gelebt hatten; der jetzt aber schon dem Vater, der dort ein Haus gekauft hatte und nun wieder verkaufen will, fremd geworden ist, ein Ort, der der Tochter erst recht fremd bleibt. Es geht auf dieser Reise hin zu einem nur sehr theoretischen Ursprung zuerst nach Ägypten (ein Ägypten vor Sisi, vor Mursi), dann nach Jordanien, wo weitere Verwandte leben, die von Vertreibung und Exilierung berichten.

Der Vater streitet sich immer wieder mit Taxifahrern und Verkäufern, die Tochter bleibt distanziert und cool im Hintergrund. Dazwischen Aufnahmen aus Berlin, winterlich, verschneit, kaum ein Mensch zu sehen, nur ein dunkles Haus, da wohnt die Mutter, sie hat eine kleine, stille Präsenz im Film.

Wenn Vater und Tochter sich unterhalten, geht es um die Familiengeschichte und um den Nahostkonflikt; für den Vater ist das ein und dasselbe Thema, für die Tochter nicht. Der Vater identifiziert sich mit der palästinensischen Sache einerseits uneingeschränkt, andererseits hat er sich, sagt die Tochter, vom politischen Kampf schon in den Siebzigern verabschiedet.

Sie bekommt in ihrem Film die Lebensgeschichte ihres Vaters nicht zu einem runden Bild; dass sie Lücken stehen und ihre eigene Unsicherheit durchscheinen lässt, macht einen großen Teil des Reizes ihres Films aus. Erst recht eignet sich die Familie nicht dazu, erkennt man in „Schildkrötenwut“, einen historischen Zusammenhalt zu stiften (egal wie oft das behauptet wird; in Deutschland zuletzt in Form des Fernsehmehrteilers „Unsere Mütter, unsere Väter“).

Die intensivsten Gespräche zwischen Vater und Tochter finden in einem minimalistischen, fast abstrakten Setting statt: Vor einer weißen Wand sitzen sie nebeneinander, auf einer kleinen Decke, nur von einer nackten Glühbirne beleuchtet. Als ich den Film zum ersten Mal gesehen hatte, war ich davon ausgegangen, dass diese Szenen im Keller der Berliner Wohnung der El-Qalqilis aufgenommen sind, in jenem Keller, in den sich der Vater, wie die Tochter im Film meint, einst wie in einen Schildkrötenpanzer zurückgezogen hatte.

Beim Wiederanschauen bin ich mir nicht mehr sicher; einige Dialoge deuten darauf hin, dass sich die Wand, die Decke, die Glühbirne in Qalqilia befinden, Teil jenes Hauses sind, in dem Musa El-Qalqili seine verlorene Heimat wiederzufinden – vielleicht eher: wiederzuerfinden – hoffte.

Am Ende spielt es wohl keine Rolle, wo diese Gespräche tatsächlich stattgefunden haben. Der Vater wird sich auch in ihnen nicht mit der Geschichte, die Tochter nicht vollständig mit dem Vater aussöhnen können. Aber immerhin können sich die beiden für eine kurze Zeit isolieren, von der Welt, von der Geschichte, vom Alltag, der einen in Berlin genauso zu erdrücken versucht wie in Qalqilia. Und sie können sich einen intimen Raum schaffen, der wieder einen Eindruck davon ermöglicht, was das allen persönlichen und politischen Verwerfungen zum Trotz sein kann: eine Familie.

■ „Schildkrötenwut“: Lichtblick-Kino, 22. 2., 18 Uhr (OmU), in Anwesenheit der Regisseurin Pary El-Qalqili