: „Ich habe lange mit mir gerungen“
Der „Spiegel“ hat Sarrazins rassistischen Thesen zum Thema Integration eine prominente Auftrittsfläche verschafft – Aufklärung oder Geschäftemacherei?
■ ist Chefredakteur des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Der studierte Jurist ist seit 1992 beim Spiegel tätig. 2008 trat er gemeinsam mit Georg Mascolo die Nachfolge von Stefan Aust an.
INTERVIEW STEFFEN GRIMBERG
taz: Herr Müller von Blumencron, warum gibt sich der Spiegel für den Vorabdruck des neuen Buchs von Thilo Sarrazin her?
Mathias Müller von Blumencron: Das war keine leichte Entscheidung, wir haben darüber intensiv in der Redaktion debattiert. Auch ich habe lange mit mir gerungen. Sie können sich denken, dass ich den Text weder inhaltlich noch im Ton teile. Er widerspricht meinen Vorstellungen von einer offenen Gesellschaft und der Zukunft dieses Landes diametral. Aber so ist das bei Meinungstexten: Um Debatten einzuleiten, müssen wir auch Beiträge drucken, mit deren Aussagen wir nicht einverstanden sind.
Aber bringt der Text die Debatte denn irgendwie voran? Es handelt sich doch um radikal rassistischen Populismus.
Wenn Thilo Sarrazin irgendein Autor wäre, würde die Sache anders aussehen. Aber ihn zeichnen gleich zwei Dinge aus: Er war Finanzsenator in Berlin und ist immer noch ein prominenter Sozialdemokrat – und noch viel wichtiger: Sarrazin ist Mitglied des Vorstands einer der ehrwürdigsten Institutionen dieser Republik, der Bundesbank. Er ist daher eine Stimme des öffentlichen Lebens, die sich auf diese Weise in die Debatte einbringt. Das hat uns letztlich bewogen, den Text zu drucken.
Allerdings fiel die Anmoderation des Buchauszugs doch recht zahm aus: Warum hat der Spiegel Sarrazins Thesen nicht kommentiert oder wenigstens in der Rubrik „Hausmitteilung“ Stellung bezogen, wie das bei anderen Themen durchaus der Fall ist?
Unsere kritische Haltung haben wir in der Einleitung zu dem Buchauszug deutlich gemacht, aber ich halte nichts davon, Texte mit einer Gebrauchsanweisung zu versehen. Es handelt sich um einen Meinungsbeitrag, über den man streiten muss. Und es wird ja glücklicherweise schon heftig gestritten. Wir werden es natürlich nicht dabei belassen, einen solchen Text zu drucken, und dann einfach zur Tagesordnung übergehen. Der Spiegel wird das Thema weiterdrehen. Mit Debatten, aber auch mit Artikeln zum Thema Integration: Über Probleme, die es gibt – aber auch über das, was gelungen ist.
Aber wenn Sie Sarrazin schon so viel Raum geben: Warum ist der Vorabdruck dann nicht prominenter auf dem Titel oder im Inhaltsverzeichnis angekündigt? Dort aber findet sich der Vorabdruck eher unter „ferner liefen“ …
Das sehe ich nicht so. Sarrazin hat bei uns mehrere Seiten bekommen. Das reicht.
Zudem klammert der im Spiegel veröffentlichte Auszugs diverse heiße Eisen aus – das Thema Eugenik kommt beispielsweise gar nicht vor!
Es geht um ein langes Buch, und man muss sich für einen bestimmten Ausschnitt entscheiden. Wir haben hier versucht, Sarrazins Sicht der Dinge weder im Ton abzumildern noch an den Thesen zu rasseln, damit alles noch spektakulärer erscheint. Sondern wir haben eine zentrale Passage gewählt.
Dabei hatten Sie einen Vorsprung vor fast allen anderen Medien: Die hatten sich – bevor der Verlag wegen der aktuellen Debatte die Sperrfrist am Donnerstag aufhob – verpflichten müssen, vor kommendem Montag nichts über das Buch zu bringen.
Der Spiegel legt Wert auf Exklusivität, das tut er bei jedem Buch und Vorabdruck.
Und was kann die Welt am Montag erwarten? Wird die Chefredaktion selbst Stellung beziehen?
Sie können sicher sein, dass wir auf den Fall Sarrazin ausführlich eingehen werden.
Wird sich Thilo Sarrazin danach besser oder schlechter fühlen als heute?
Das sind für uns keine Kriterien. Ich fürchte, er fühlt sich gerade ziemlich gut. Ich möchte, dass man sich mit dem Kern der Debatte beschäftigt – mit dem Thema Integration, aber auch damit, wie in Deutschland darüber diskutiert wird.
Und deshalb drucken Sie zunächst als pure Provokation den Beitrag einer Oberkrawallschachtel?
Dieser Text ist leider ein Abbild der Art und Weise, wie in vielen Teilen dieses Landes über Integration geredet wird. Damit muss man sich auseinandersetzen, das kann man nicht verdrängen. Sarrazin provoziert, aber das allein spricht nicht dagegen, diesen Text zu drucken.