: Kinder schreien in Las Vegas
Das Miniaturwunderland in der Hamburger Speicherstadt feiert Geburtstag. In den vergangenen fünf Jahren kamen über 2,5 Millionen Besucher. Die Miniwelt ist gespickt mit verschrobenen Details – und manchmal mit unkontrollierbaren Besuchermassen
Überall blinkt und summt es. Kinderstimmen überschlagen sich. Die Luft ist stickig. Mit der Beschaulichkeit von Opas Modellbahn, die sich friedlich um Gartenzwerge und den Fischteich schlängelt, hat das „Miniatur Wunderland“ in der Hamburger Speicherstadt nichts gemein. Auf über 3.500 Quadratmetern erstreckt sich die größte kleine Eisenbahnanlage der Welt. Dieser Gigantismus im Miniaturformat ermöglicht dem Besucher eine gemütliche Indoor-Sightseeing Tour um den Erdball. Die Miniaturwunderwelt könnte ein Symbol für das Internetzeitalter sein: Ein globales Dorf.
Hinter dem Hamburger Hafen liegen die Rocky Mountains, die Gesichter der vier Präsidenten im Mount Rushmore. Gegenüber leuchtet und tönt Las Vegas. Hier ist die Welt näher zusammengerückt. Vereinfacht und doch irgendwie kompliziert. Zu weit, zu groß ist das kleine Land. Die Metropolenakkumulation des Riesensuchbildes verhindert eine mentale Verschnaufpause. Von hinten stoßen schon die nächsten Kurzzeit-Weltreisenden. H0-Idylle kann inmitten dieser Völkerwanderung nicht aufkommen. Bis zu dreitausend Besucher kommen täglich nach Neu-Lilliput, um sich die Modelleisenbahnen in ihrer natürlichen Umgebung anzuschauen. An diesem Tag sind es weit mehr. Das Wunderland hat Geburtstag. Lockt mit Tombola und Sonderangeboten, später gibt es Tanz und Musik bis spät in die Nacht hinein.
Heute vor fünf Jahren wurde die Anlage eröffnet. Damals beschränkte sie sich noch auf auf Mittel- und Süddeutschland. Moderne Heimatkunde mit stereotyp deutscher Postkartenansicht. Alpen und Kirmes. Es folgte Norddeutschland mit Hamburg. Michel und AOL-Arena in Derby-Stimmung. Seit vier Jahren wird der FC St. Pauli täglich vom HSV deklassiert. Bei jedem Tor erfüllt Blitzlichtgewitter das geschrumpfte Stadion. Schließlich wagten sich die Konstrukteure über den großen Teich und holten Amerika in ihr Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
„Am Anfang“, erinnert sich Geschäftsführer Frederik Braun, „haben wir gehofft, dass wenigstens 100.000 Besucher im Jahr kommen. Heute sind es über 800.000. Das ist der absolute Wahnsinn.“ Stimmt. Im Treppenhaus drängen sie sich dicht an dicht. Am Eingang sitzt ein Mitarbeiter auf einem Klappstuhl und schickt die ersten Familien wieder nach draußen. „Kommen sie heute Abend wieder. Oder morgen in aller Frühe.“ Die Wartezeit beträgt fast drei Stunden.
Während die Kinder vor der Tür in Tränen ausbrechen, dämmert es über der AOL Arena. Alle fünfzehn Minuten wird ein Tagesablauf simuliert. Wenn es Nacht wird über Las Vegas, entwickelt das Wunderland für einen kurzen Moment seinen ganz speziellen Zauber. Kinder werden still, in den kleinen Häusern gehen die Lichter an. Straßenlaternen werden entzündet und im amerikanischen Bauteil erstrahlt das in den Fels gehauene Gesicht George Washingtons. Nach Sonnenaufgang kann man nur mit viel Körpereinsatz auf Entdeckungstour gehen. Ein genauerer Blick in diesen aus dem Ruder gelaufenen Kindheitstraum offenbart jedoch den eigentlichen Reiz der Attraktion. Es sind nicht die nachgebauten Sehenswürdigkeiten, sondern die verrückten Details, die man erst auf diese Weise entdeckt.
Kleine Fantasiegebilde, Scherze und versteckte Überraschungen offenbaren den Spieltrieb und den Humor der Erbauer. In kleinen Szenen haben sie sich selbst verwirklicht. Es gibt Trollhöhlen und Unterwasserwelten. Bluegoals und ein echtes Fanfest mit La Ola. Ein nacktes Paar im Wald und eindeutiger Pose und Nonnen auf dem Rummel. Der Running-Gag ist dabei ein Bilderbuch-Schneemann mit Zylinder, rotem Schal und Karottennase. Mal sieht man ihm bei Skispringen, mal ist er Schlittschuhlaufen. Diese Details geben der Massenabfertigung ihren verspielten Kern.
Der Pulk aus Blitzlicht und Gebrüll drängt zum Ausgang. Wer jetzt noch nicht genug hat von 1:87, findet kann hier jedes noch so verschrobene Detail erstehen. Das Tor zur eigenen Miniaturwelt blinkt und summt. Lucas Vogelsang