: „Bildungsfern sind immer die anderen“
Jetzt mal im Ernst … Frau Karakayali, was ist gute Schule? „Sie orientiert sich an den Kindern“, sagt die Forscherin
■ 40, ist Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Berlin. Sie forscht zu Rassismus und Segregation an Berliner Schulen und ist Mitglied im Rat für Migration.
INTERVIEW ALESSANDRO ALVIANI
sonntaz: Frau Karakayali, ist es eine gute Idee, wenn deutsche Eltern ihre Kinder gezielt an Schulen mit hohem Migrantenanteil schicken?
Juliane Karakayali: Warum interessiert es überhaupt, dass es an einer Schule einen hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund gibt? Das ist doch keine Kategorie. Dass die Unterrichtsqualität gut ist, die Lehrer und Lehrerinnen nett, die Angebote interessant, die Ausfälle wenig: Das sind die Kriterien für die Wahl einer Schule. Welche Kinder sie besuchen, muss sekundär sein.
Viele Eltern sehen im Anteil der Migranten an einer Schule ein Qualitätsmerkmal.
Die Pisa-Studien haben gezeigt, dass Kinder mit Migrationshintergrund durchschnittlich schlechter in der Schule abschneiden. Darum wird befürchtet, diese Kinder könnten andere Kinder am Lernen hindern. Das hat wissenschaftlich erwiesen etwas mit Diskriminierung zu tun. Aber niemand spricht über die Diskriminierung, statt dessen wird behauptet, die Leute wären bildungsfern.
Untersuchungen belegen, dass Kinder nicht so gebildeter Eltern in der Schule schlechter vorankommen.
Ja, in Deutschland ist der Schulerfolg sehr stark an die soziale Herkunft gebunden. Das hat aber etwas mit dem Schulsystem zu tun, das sozial selektiv ist und nichts mit den Fähigkeiten der Kinder. Das deutsche Bildungssystem ist extrem diskriminierend gegenüber Kindern mit Migrationshintergrund und aus armen Haushalten. Das ist das Problem, Debatten über die richtige Mischung gehen daran vorbei.
Sind Begriffe wie „bildungsnah“ und „bildungsfern“ überhaupt treffend?
Diese Kategorien werden sehr locker gehandhabt – bildungsnah sind immer die Herkunftsdeutschen, bildungsfern immer die anderen. Das führt an einigen Schulen sogar zur Einrichtung nach Herkunft getrennter Klassen. Dabei zeigen Schulen, die mit Konzepten arbeiten, um ungleiche Bildungschancen abzubauen, dass Kinder unabhängig von der Herkunft erfolgreich sein können.
Was würde helfen?
In dieser Gesellschaft gibt es keine vollen Partizipationschancen für Menschen mit Migrationshintergrund. Deshalb gibt es Segregation auch in der Schule. Also muss man sich mit dem Rassismus in dieser Gesellschaft beschäftigen.
Warum wollen Eltern ihre Kinder eigentlich nicht mit vermeintlich schwächeren in eine Klasse schicken?
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Daher geht es beim Thema Bildung immer auch um Konkurrenz. Sonst gäbe es auch Institutionen wie das Gymnasium nicht mehr. Bestünde ein wirkliches Interesse an gleichen Bildungschancen für alle, dann wäre das Schulsystem längst nachhaltig reformiert worden.
Ist es dann eher schädlich, wenn sich Eltern stark an einer Schule engagieren?
Das hängt immer davon ab, wie offen ein solches Engagement ist. Sind alle eingeladen, mitzumachen? Oder übernimmt eine Gruppe von Eltern komplett die Sprecherposition und boxt Interessen für die eigenen Kinder durch?
Wenn die Schule derart von einem Kampf der Interessen geprägt ist, was hilft es, Kinder verschiedener Herkunft nebeneinander zu setzen?
Mir gefällt die Frage nicht. Was heißt das denn: nebeneinander setzen? Wir leben in einer pluralen Gesellschaft, in der Kinder verschiedener Herkunft zumindest in Großstädten ganz von allein in der Schule nebeneinander sitzen. Jedenfalls dann, wenn man das nicht gezielt und mit einigem Aufwand verhindert. Es ist ja auch nicht so, dass Eltern verschiedener Herkunft automatisch unterschiedliche Interessen haben.
Dann gibt es also kein Problem?
Wir können natürlich trotzdem feststellen, dass Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen, in der sie Segregation erleben. Eine Aufgabe der Schule muss es deshalb sein, aktiv ein Miteinander zu fördern. Das geht aber nicht einfach über die Mischung. Wenn deutsche Kinder in einer Klasse auftauchen, bedeutet das nicht, dass die Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund aufhört.
Wie ließe sich der Unterricht denn wirklich verbessern?
Wir brauchen einen Unterricht, der sich an den Kindern orientiert, die da sind, und nicht überall mittelschicht-herkunftsdeutsche Maßstäbe anlegt. Wir brauchen einen respektvollen Umgang mit Mehrsprachigkeit. Und Lehrer und Lehrerinnen, die mit Kindern arbeiten möchten, die zu Hause nicht immer Hilfe bekommen – gleich welcher Herkunft.
Dem Unterricht mag das zugutekommen. Aber sortieren sich die Kinder in der Freizeit nicht doch wieder nach Elternhaus – die, die Tennis spielen, sind mit denen befreundet, die Tennis spielen?
Dass sich Kinder nur mit Kindern gleicher Herkunft befreunden, ist ein Mythos. Meine Erfahrung ist eine andere. Aber natürlich suchen sich die Kinder andere Kinder, mit denen sie was anfangen können, die ähnliche Interessen haben. Es kommt aber auch sehr darauf an, welche Freundschaften von den Eltern anerkannt und gefördert werden. Welche Kinder dürfen beispielsweise nach Hause eingeladen werden und welche nicht.