: The smart publisher
Am 18. November 1991 um 7.38 Uhr geht, so meldet tags darauf ein taz-intern, „der erste Telefax-Brief ein: H. F. aus Kassel zeichnet die erste Einlage.“ Zwei Tage zuvor hat der taz-Verein beschlossen, die Zeitung an eine neu zu gründende Genossenschaft zu übertragen. Eine Woche später haben bereits mehr als 1.000 LeserInnen die erste Million D-Mark Kapital zugesagt.
Eine Erfolgsgeschichte von Anfang an. So die offizielle Chronik. Wenige außer den Beteiligten erinnern sich vermutlich heute, dass harte Grabenkämpfe der Gründung der Genossenschaft vorangingen, dass die taz-Belegschaft vor dem Auseinanderbrechen stand, dass zwei Fraktionen sich wenn nicht bis aufs Messer, so doch mit Durchstechereien an Spiegel und FAZ bitterböse bekämpften.
Im ersten Halbjahr 1991 macht die taz eine halbe Million Mark Verlust, Überschuldung und Insolvenz standen unmittelbar bevor. Sie wären schon Realität gewesen, hätte nicht Kalle zwei Jahre zuvor den Kauf des Hauses Kochstraße 18 eingefädelt, das nach dem Fall der 100 Meter entfernten Mauer plötzlich das Doppelte wert war.
Die Mehrheit der Redaktion wehrte sich gegen seine Sanierungspläne (140 statt 200 Mitarbeiter), sie suchte den großen Investor, der uns mit 20 oder besser 30 Millionen retten und den Hunger-Einheitslohn von 1.500 Mark netto aufstocken sollte. Nur, der Investor zeigte sich nie – ob Augstein oder Reemtsma, keiner wollte sein Geld der tief zerstrittenen und defizitären taz anvertrauen. Kalle setzte auf eine andere Karte: viele kleine statt eines großen Geldgebers, und er knüpfte die Fäden: Aus einem ersten Besuch in Hamburg bei Olaf Scholz, damals Justiziar des Zentralverbandes der Konsumgenossenschaften, der Zuspruch und guten Rat beisteuerte, wurde eine Strategie.
Reden vor großem Publikum war ja nicht Kalles große Stärke. Als es zur Entscheidungsschlacht auf der Mitgliederversammlung des taz-Vereins kam, übernahm das Christian Ströbele: Nur das Genossenschaftsmodell sichere die Unabhängigkeit der taz, 7 bis 10 Millionen Mark könnten Geld gebende Genossen in den kommenden Jahren aufbringen. Viele von uns Redakteuren hatten zwar ihre Zweifel, aber das unausgegorene Investorenmodell flößte noch weniger Vertrauen ein.
Zu Recht, wie wir heute wissen. Siehe die verblichenen Titel Wochenpost, Woche, Frankfurter Rundschau, oder die heute noch schlingernde Pariser Libération. Denn Investoren verlieren ungern Geld, dafür aber irgendwann die Geduld, wenn die schwarze Null zu lange auf sich warten lässt.
Kalles Sieg auf der entscheidenden Versammlung des taz-Vereins fiel mit 132 gegen 58 Stimmen deutlich aus. Aber auch da pflegte er die vornehme Zurückhaltung des Geschäftsführers, der bis heute mehr als ein Dutzend Chefredakteure überlebt hat. Keine triumphierende Geste, nur eine nüchterner kleiner Kasten auf der Seite 3 unter seinem Namen: „taz an Leser verkauft“. Michael Rediske
Kalle hatte wieder einmal auf das richtige Pferd gesetzt. Er wusste, dass die taz nie auf Dauer eine schwarze Null schreiben wird. Und dass der Aufbau einer Leser-Gemeinschaft (mittlerweile als community-building bekannt) am effektivsten die Existenz der kleinen, am Anzeigenmarkt nicht konkurrenzfähigen Zeitung sichern kann.
■ Michael Rediske, Chefredaktion 1996 bis 1999