: „Der Papst wollte unbedingt Gitarren“
Sie galt als Symbol der deutsch-polnischen Versöhnung: Vor 40 Jahren wurde Krzysztof Pendereckis „Lukas-Passion“ uraufgeführt. Heute dirigiert er das einst avantgardistische Werk im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals in Hamburg. Ein Gespräch über Religion, Tradition und Bäume
Interview: PETRA SCHELLEN
taz: Herr Penderecki, bei Ihrer Uraufführung 1966 in Münster ist die Lukas-Passion – und auch die Tatsache, dass während des Kalten Krieges das Werk eines polnischen Komponisten in Westdeutschland aufgeführt wurde – als Symbol der deutsch-polnischen Versöhnung begriffen worden. Wo steht die deutsch-polnische Verständigung heute?
Krzysztof Penderecki: Die letzten Monate der Regierungszeit der populistischen Brüder Kaczynski haben nicht viel Positives gebracht – aber meine persönliche Beziehung zu Deutschland hat sich dadurch nicht verändert. Auch nicht die des polnischen Volkes. Der teils anti-deutsche und anti-europäische Populismus geht ausschließlich von diesen Politikern aus und wird von der Mehrheit der Polen nicht gebilligt.
Aber diese Politiker sind gewählt worden.
Ja. Aber sie tun jetzt völlig andere Dinge, als sie versprachen. Es ist wirklich absurd, dass jetzt Anti-Europäer an der Regierung eines so offenen, sich seit jeher als europäisch begreifenden Volkes stehen.
Wird es also bald vorüber sein mit den Brüdern Kaczynski?
Diese Regierung ist für vier Jahre gewählt. Hoffentlich kein zweites Mal.
Wenn Sie auf die Spanne zurückblicken, die seit der Uraufführung der Lukas-Passion vergangen ist: Ist in den deutsch-polnischen Beziehungen ein Status quo erreicht, der unumkehrbar ist?
Es hat sich enorm viel bewegt. Der wechselseitige Hass der Nachkriegszeit ist komplett verschwunden. Und es gibt mehr Offenheit als früher – ausgeprägter allerdings auf polnischer Seite. In Polen kennt man deutsche Literatur, man bespricht sie in der Schule; in Deutschland überhaupt nicht. Ganz allgemein ist die polnische Kultur in Deutschland leider immer noch kaum bekannt.
Aber parallel gab und gibt es in der polnischen Literatur, Musik und Kunst einen Trend zur Selbstvergewisserung; das Bestreben, Identität stiftende Werke zu schaffen. Auch Sie nehmen in etlichen Kompositionen auf polnische Themen Bezug – auf die Niederschlagung des Danziger Aufstands 1970, auf die Unterdrückung des Aufstands im Warschauer Ghetto 1944. Sehen Sie sich in der Pflicht, einen Beitrag zur polnischen Nationalkultur zu leisten?
Ja, aber das ist vorbei. Meine Pflicht in dieser Hinsicht habe ich in den 60er Jahren getan. Die Lukas-Passion zum Beispiel war kein politisches Werk. Aber sie wurde als Politikum genutzt. Dabei verstehe und verstand ich mich nie als der große Politiker, der öffentlichkeitswirksam Versöhnung proklamiert. Meine Beziehungen zu Deutschland sind ganz natürlicherweise intakt. Mein Großvater war Deutscher, ich selbst habe drei Jahre hier gelebt, habe hier Karriere gemacht. Ich verdanke Deutschland sehr viel: Deutsche Avantgarde-Komponisten haben meine musikalische Entwicklung befördert, und viele meiner Werke sind hier entstanden.
Ihre Lukas-Passion galt als zentrales Werk der Avantgarde. Wenn Sie dieses Werk nun nach 40 Jahren wieder dirigieren: Ist das ein sentimentaler Akt, oder empfinden Sie inzwischen eine künstlerische Distanz?
Natürlich kann man heute nicht so komponieren wie vor 40 Jahren. Ich habe die Lukas-Passion an ihrem Jahrestag – am 30. März – wieder aufgeführt in Münster, wo sie damals uraufgeführt worden war. Das war schon eine sentimentale Reise. Es ist ein Werk, das mir den Weg gewiesen hat. Daran hat sich nichts geändert
Sie haben mal gesagt: Die Avantgarde ist vorbei. Neues muss man nicht mehr schaffen. Seit wann?
Avantgarde ist immer eine Periode – in der Musik- wie in der Kunstgeschichte. Sie dauert ein paar Jahre, nicht mehr. Heute sehe ich viele Komponisten, die genauso schreiben wie vor 40 Jahren. Ich finde das lächerlich, dass man sich nicht entwickelt hat. Immer wieder verkauft man alte Klamotten. Die Avantgarde war Ende der 60er abgeschlossen. Was damals wichtig war – die neue Formensprache, die Entdeckung neuer Instrumente und Strukturen – das kann man heute nicht mehr als revolutionär verkaufen.
Aber was kommt danach? Ihnen wurde in den letzten Jahren vorgeworfen, allzu traditionell zu schreiben.
Ohne rückwärts zu schauen, kann man nicht vorwärts gehen. Ohne Bach hätte ich die Lukas-Passion nicht schreiben können. Meine Musik ist stark in der Tradition verwurzelt – aber natürlich schreibe ich keine traditionelle Musik. Ich schreibe vor allem meine individuelle Musik.
Einige Passagen Ihrer Musik klingen wie aus dem 17. Jahrhundert, andere wie Wagner. Welcher Epoche entstammt Ihre aktuelle musikalische Sprache?
Das spielt doch keine Rolle! Es ist meine Sprache, mit der ich mich wohl fühle. Und ich bin einer der wenigen zeitgenössischen Komponisten, deren Werke fest ins Repertoire der Abonnementskonzerte eingegangen sind. Das betrifft sowohl meine frühen, avantgardistischen, als auch meine späteren Werke.
Ist es ein Qualitätskriterium, dass viele Menschen Ihre Werke schätzen? Ist es ein Beweis für Fortschrittlichkeit?
Aber wenn es viele Leute schätzen – ist das ein Beweis dafür, dass es schlecht ist?
Habe ich nicht gesagt. Aber wir hatten über Avantgarde gesprochen.
Die Avantgarde … ist vergessen! Und wenn es heute eine Avantgarde geben sollte, müsste die wirklich das Alte hinter sich lassen.
Was könnte das Neue sein? Wollen Sie es nicht erschaffen?
Ich schreibe meine Musik. Und dafür habe ich eine Sprache gefunden. Ich sage nicht, dass das gut ist oder schlecht – aber niemand kann so schreiben, weil den meisten Komponisten das Handwerkszeug fehlt. Ich konnte zum Beispiel, als ich jung war, eine Messe im Stil von Palestrina schreiben oder eine romantische Sinfonie. Ich hatte alle Stilmittel zur Verfügung. Die heutigen Komponisten dagegen können nur wiederholen, was sie auf den Hochschulen gelernt haben.
Sie schreiben viele religiöse Werke. Hat das auch persönliche Gründe?
Nun ja, das ist schon Tradition. In den 50ern habe ich geistliche Musik geschrieben, weil es verboten war. Inzwischen ist es zu einer persönlichen Tradition geworden.
Steht ein persönliches Bedürfnis dahinter?
Nun, mein Verhältnis zur Religion hat sich natürlich verändert. Es ist sachlicher geworden. Nicht mehr so spontan wie damals. Ich hege inzwischen viele Zweifel. Als ich dagegen die Lukas-Passion schrieb, habe ich nicht gezweifelt.
Ist Religion ein Modell für die Zukunft? Eine Hoffnung in chaotischen Zeiten?
In schwierigen Zeiten ist Religion für Polen immer sehr wichtig gewesen – während der Nachkriegszeit oder während des Kalten Krieges. Aber seit der Wende ist das weniger geworden. Vorher bezeichneten sich 95 Prozent der Polen als gläubig, inzwischen sind es noch 52 Prozent. Das zeigt, dass sich die Kirche reformieren muss, wenn sie den Menschen weiterhin etwas bieten will. Das ist eine Herausforderung – vor allem für die katholische Kirche, die sehr erstarrt ist.
A propos: Sie waren ja mit Karol Wojtyła – dem späteren Papst Johannes Paul II. – befreundet …
Befreundet ist übertrieben. Ich kannte ihn sehr gut. Er hat mich eingeladen, und ich habe im Vatikan Konzerte gegeben. Aber ich war keineswegs immer seiner Meinung – etwa, was die Musik in der Kirche betraf. In den 60ern hat er zum Beispiel die Gitarre in der Kirche eingeführt und mich gebeten, etwas für dieses Instrument zu komponieren. Da habe ich ihm gesagt, dass ich das für die falsche Richtung halte, weil Kirche seit alters her die größte Musik unterstützt hat, nicht die populärste.
Woran arbeiten Sie aktuell?
Ich schreibe eine Oper nach „Phaedra“ von Racine. Außerdem möchte ich meine 6. Sinfonie zu Ende bringen. Und vielleicht eine Kinderoper schreiben.
Wenn Sie nicht komponieren, dann sammeln Sie Bäume, wie man hört. Wollen Sie damit – frei nach Luther – ein Zeichen der Hoffnung setzen?
Ich habe, glaube ich, das größte Aboretum in Nordeuropa. Auf 30 Hektar wachsen 1.500 Arten. Nach der Musik ist das meine Hauptbeschäftigung. Und das tue ich auch gern in Luthers Sinne: Ich pflanze Bäume, und die bleiben. Hoffentlich bleibt auch die Musik.
Wobei Bäume ja sehr langsam reifen. Ein Wald braucht im Schnitt 15 Jahre, um „erwachsen“ zu werden.
Ja, und deshalb habe ich in den letzten Jahren begonnen, große Bäume zu pflanzen. Damit ich noch erleben kann, dass sie erwachsen werden.
Krzysztof Penderecki dirigiert seine Lukas-Passion heute um 20 Uhr im Hamburger Michel