: Ein Platzverweis für Jesus
Bei der Copa Libertadores fliegt Tinga vom Feld, weil er beim Torjubel sein Trikot auszieht und ein Jesus-T-Shirt zeigt. Sein Team Internacional Porto Alegre wird nach dem 2:2 gegen den FC São Paulo dennoch Lateinamerika-Champion
PORTO ALEGRE taz ■ In Südbrasilien ist die Fußballwelt wieder in Ordnung: Nach einem glücklichen 2:2 im Rückspiel des Copa-Libertadores-Finales – der südamerikanische Champions League – heißt Lateinamerikas Topmannschaft des Jahres Internacional Porto Alegre. Der FC São Paulo muss mit dem Vizetitel vorliebnehmen. Eine Woche zuvor war der Titelverteidiger und Weltpokalsieger im heimischen Morumbi-Stadion den Gaúchos mit 1:2 unterlegen. Die Freudenböller der „Colorados“ (Roten), wie die Inter-Fans heißen, hallten eine kalte Winternacht lang durch Porto Alegre.
„26 Jahre lang habe ich auf diesen Tag gewartet“, sagte Orlei Choai. Er erinnert sich noch gut daran, wie er als Neunjähriger im Fernsehen Inters Niederlage bei seiner ersten Libertadores-Entscheidung verfolgte – damals ging es gegen Nacional Montevideo. Nun war der Fan Choai gleich zweimal im rot-weißen Inter-Outfit aus dem Nachbarstaat Santa Catarina angereist. Beim Kartenkauf nahm er 30 Stunden Wartezeit auf sich, und zum Finale am Mittwochabend betrat er in Begleitung von Frau Adriane und Sohn Lucas zum ersten Mal in seinem Leben das ausverkaufte Beira-Rio-Stadion.
Und die drei wurden nicht enttäuscht: Inter und São Paulo, die wie schon im Vorjahr die Tabelle der brasilianischen Liga anführen, lieferten sich ein packendes Duell. Obwohl die Gäste auf ihre Leistungsträger Ricardo Oliveira und Josué verzichten mussten, waren sie über weite Strecken des Spiels optisch überlegen – die Statistiker notierten 19:6 Torschüsse zugunsten des FC São Paulo. Die Roten waren allerdings viel effektiver. Während im Hinspiel Inters erste Sturmspitze Rafael Sobis mit seinen zwei Treffern das Spiel fast im Alleingang entschied, war es diesmal Stürmerkollege und Kapitän Fernandão: In der 29. Minute nutzte er einen Patzer von Startorwart Rogério Ceni zum 1:0, in der 65. leistete er die Vorarbeit zum vorentscheidenden 2:1 durch Tinga. Der riss nach seinem Kopfballtor das Trikot hoch und zeigte den Fans sein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Danke, Jesus“. Den argentinischen Pfeifenmann Horacio Elizondo ließ das kalt. Wie zuletzt im WM-Finale nach Zinédine Zidanes Kopfstoß zückte er gegen den vorher bereits verwarnten Torschützen die gelb-rote Karte – zum Entsetzen Tingas, der jedoch gegenüber Elizondo seine Geste wiederholte.
Immerhin brachte der schwarze Mittelfeldregisseur mit der wirbelnden Zöpfchenfrisur, der jetzt zu Borussia Dortmund wechselt, mit seiner Einlage erneut die Gegner und Spannung ins Spiel: São Paulo, das fünf Minuten nach der Halbzeit durch Aloísio das 1:1 erzielt hatte, drängte immer vehementer. Acht Minuten vor dem Abpfiff war es so weit: Einen Schuss von Júnior ließ Torwart Clemer abprallen, der eingewechselte Lenilson vollendete zum 2:2. Die Schlussminuten wurden für die 50.000 „Colorados“ im Stadion und Millionen in ganz Brasilien zur Zitterpartie. Aber kurz vor Mitternacht war alles vorbei: Internacional Porto Alegre hatte den wichtigsten Titel in seiner 97-jährigen Vereinsgeschichte gewonnen.
Doch wie in solchen Fällen üblich droht der Aderlass: Internationale Erfolge lassen den Marktwert der Spieler in die Höhe schnellen. Neben dem Neu-Borussen Tinga wechselt Innenverteidiger Bolívar zum AS Monaco. Um Stürmerstar Rafael Sobis (21) bemühen sich der AC Milan, Paris Saint-Germain und Werder Bremen. Der gleichaltrige kolumbianische Joker und Publikumsliebling Wason Rentería, der auf dem Weg ins Finale vier Tore schoss, möchte ebenfalls zu einem europäischen Verein. Routinier Fernandão hat seine Europaerfahrung bei Olympique Marseille und dem FC Toulouse schon hinter sich und hofft jetzt, vom neuen Nationalcoach und früheren Inter-Spieler Dunga in die Seleção berufen zu werden.
Im Dezember reisen die dezimierten Gaúchos nach Japan, wo sie im Semifinale des Vereinsweltpokals auf den Afrika- oder Asien-Champion treffen. Und im Endspiel, da ist sich Orlei Choai ganz sicher, geht es gegen den FC Barcelona mit Ronaldinho. Der ist beim Lokalrivalen Grêmio großgeworden – was dem erhofften Weltfinale eine ganz besondere Note verleihen würde.
GERHARD DILGER