crime scene : Vom Heimatroman zum Cineastentrash: Andrea Maria Schenkels „Tannöd“ und Didier Daeninckx’ „Statisten“
Sogar Dostojewskis „Schuld und Sühne“ wird ja gern als Kriminalroman bezeichnet. Das ist nicht verboten, wenngleich sich durchaus Einwände gegen die damit implizierte Minimaldefinition des Genres finden ließen, nach der jeder Roman ein Kriminalroman ist, in dem jemand eines unnatürlichen Todes unter Einwirkung mindestens einer weiteren Person stirbt. Wenn man denn dies als Oberkategorie taugen lässt und Dostojewskis nihilistischen Schmöker unbedingt eingliedern will in die große Genrekiste, passt er vielleicht zur Not noch hinein.
Doch dann gibt es literarisch weit weniger verdienstvolle Werke aus jüngster Zeit, die unter dem marktgängigen Label „Krimi“ vertrieben werden – und sich noch weit mehr gegen solche Etikettierung sperren. Andrea Maria Schenkel zum Beispiel ist es mit ihrem Roman „Tannöd“ auf durchaus bemerkenswerte Weise gelungen, den Krimi mit dem Heimatroman zu kreuzen. Der Handlungsort liegt, atmosphärisch und sprachlich, irgendwo im vage Bayerischen, vielleicht im Bayerischen Wald. Auf einem einsam gelegenen Bauernhof sind alle Bewohner erschlagen aufgefunden worden. Mit der Bluttat im Zentrum des Romans dröselt Schenkel das Beziehungsgeflecht drum herum langsam auf. Scheinbar schlicht aufgebaut, setzt sich die Geschichte aus kurzen Abschnitten von jeweils wenigen Seiten wie ein Mosaik aus zunächst unverbundenen Erzählhäppchen zusammen. Jeder Abschnitt berichtet aus Sicht einer jeweils anderen Person, wobei sich Passagen abwechseln, in denen Menschen einem fiktiven Erzähler ihre Sicht der Dinge schildern, und solche, in denen aus der Innensicht einer beteiligten Figur erzählt wird. Dieses Verfahren schließt die Perspektive der Mordopfer ein und beleuchtet daher raffiniert auch die dem Mord vorangegangenen Ereignisse. Die Lösung des Falles fällt eher tragisch als spektakulär aus. Doch es ist dies ja auch kein klassischer, sondern im äußersten Fall ein Heimatkrimi, vor allem aber eine Erzählung aus den dunklen Tiefen des Bayerischen Waldes und der Fünfzigerjahre, die ein recht überzeugendes Sittenbild abgibt. Mit einer präzisen Balance von Erzählökonomie und Timing erzeugt die Autorin eine durchgehende Spannung, die zwar nicht den Atem verschlägt, aber doch zuverlässig in Bann zieht.
Ein völlig anderes Beispiel für extreme Randerscheinungen des Genres ist Didier Daeninckx' „Statisten“, ein Werk, dessen Verdienste vielleicht am ehesten mit der provisorischen Genrebezeichnung „Cineastentrash“ umschrieben werden könnten. Gar nicht so einfach, aus diesem schmalen „Roman“ – 93 Seiten Erzählung plus ganzer zehn Seiten mit Anmerkungen, in denen sämtliche Filme und Regisseure erläutert werden, von denen im Text die Rede war – eine Handlung zu destillieren. Zumal diese erst nach der Hälfte der Erzählung beginnt und die erste Hälfte ausschließlich der Schilderung zahlreicher obskurer Filmfestivals gewidmet ist, denen der Protagonist beiwohnt, und den obskuren Orten, in denen sie stattfinden. Auch das häufige Auftreten pittoresker, für die Handlung irrelevanter Nebenfiguren, die bloß dem Lokalkolorit dienen und die immerhin teilweise mit gewissem Sprachwitz geschildert werden, kann nicht wirklich dafür entschädigen, dass erst auf Seite 51 jenes grauenhafte Filmfragment vorgeführt wird, auf dessen Spur man sich anschließend begeben wird: ein meisterhaft gemachter Stummfilm, in dem reihenweise Frauen getötet werden. Die untypisch realistische Darstellung rührt natürlich daher, dass hier vor laufender Kamera tatsächlich gemordet wurde. Von einem wahnsinnigen Assistenten von Fritz Lang. – So kann’s gehen mit der Kunst. Und wenn es auch noir ist, so ist es doch Nonsens. KATHARINA GRANZIN
Andrea Maria Schenkel: „Tannöd“. Edition Nautilus, Hamburg 2006, 125 Seiten, 12,90 Euro Didier Daeninckx: „Statisten“. Aus dem Französischen von Matthias Drebber. Assoziation A, Berlin 2006, 120 Seiten, 9,90 Euro