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Archiv-Artikel

Dokumente einer Befreiung

Im Auftrag der Roten Armee zeichnete der Soldat Zinovii Tolkatchev 1944/45 die KZ Majdanek und Auschwitz – notgedrungen auf Papier der Kommandantur Auschwitz, auf dem bis kurz zuvor Todesurteile ausgestellt worden waren. Jetzt sind die Zeichnungen in Hamburg zu sehen

Von PS

Zeichnungen aus Konzentrationslagern sind kein Novum. Kinderzeichnungen aus Theresienstadt und Kunst aus Auschwitz gingen schon vor Jahrzehnten um die Welt, um Realität und die sekundenweise Flucht daraus plastisch zu machen. Im öffentlichen Bewusstsein ist diese künstlerische Darstellung des Grauens aber längst durch bewegte Bilder.

Und doch birgt die derzeit in Hamburg präsentierte Schau eine bis dato wenig bekannte Facette, die sich auf die Biographie des Zeichners gründet. Der 1903 in Weißrussland geborene Kunstprofessor Zinovii Tolkatchev hat die Lager Auschwitz und Majdanek beim Einmarsch der Roten Armee 1944 gezeichnet. Ob Tolkatchev selbst Jude war oder nicht, ist bis heute unklar. Manches spricht dafür, hat er doch 1941 nach Texten des jüdischen Autors Scholem Aleichem den Zyklus „Das Schtetl“ geschaffen. Doch offiziell dazu bekannt hat Tolkatchev sich nie. Vielmehr integrierte er sich perfekt in die Maschinerie der Kommunistischen Partei, in der er eine kleine Karriere machte. Hatte er in den 20er Jahren bereits darin gedient, meldete er sich 1941 nochmals freiwillig zur Roten Armee. Drei Jahre später wurde er als offizieller Zeichner einberufen, um das, was man von Auschwitz und Majdanek vorfand, festzuhalten. Für den Prozess gegen die Kommandanten von Majdanek sollten die Skizzen im November 1944 verwendet werden.

Dass Tolkatchev als Auftragsarbeiter unterwegs war, mindert das Grauen nicht. Und auch wenn die Dimension des gezeigten Elends nicht mehr eigentlich überrascht, sind seine Blätter auf ungewollte Art makaber: Auf Papier der „Kommandantur Konzentrationslager Auschwitz“ oder der „I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft“ nämlich hat Tolkatchev gezeichnet. Andere Blätter hatte die Rote Armee nicht, Fotomaterial auch nicht; das Malutensil: ein schlichter Bleistift.

Auf dem selben Papier, auf dem kurz zuvor die Todesurteile ausgefertigt worden waren, hielt der Zeichner also Mienen und Gesten der von der SS zurückgelassenen Kranken fest. Am Rand notierte er, was die, die noch sprechen konnten, zu ihm sagten. „Nicht vergessen“ hat er immer wieder auf die Bildnisse der Ausgemergelten und Schreienden geschrieben. Zuerst gezeigt wurden die Blätter 1945/46 in etlichen polnischen Städten.

Vage bleibt die politische Verortung des Zeichners in der Sowjetunion der 50er und 60er Jahre: Als „gestört“ wurde seine Kunst hier von offizieller Seite bezeichnet, seine religiösen Blätter als „Personifizierung des bourgeoisen Nationalismus“. Wie weit ihm die Bearbeitung jüdischer Themen verboten wurde, ist unklar. Fest steht, dass er sein letztes Lebensjahrzehnt mit der Herstellung von Buchillustrationen und Porträts ukrainischer Autoren verbrachte. Tolkatchev starb 1977 in Kiew. PS

„Der Soldat Tolkatchev: An den Toren zur Hölle“ ist bis zum 6. September im Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg zu sehen