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Archiv-Artikel

Fünf Partien parallel

KOKETT Manchmal ist Größenwahn lustig: wenn man so schön damit spielt wie Chilly Gonzales, Pianist und Schachsüchtiger. Ein Film begleitet sein neues Album „Ivory Tower“

VON TIM CASPAR BOEHME

Vielleicht ist er die Rettung des Pop. Vielleicht ist er aber auch einfach nur das, was er zu sein vorgibt: ein „Entertainer“. Jason Beck, der in Berlin als Gonzales mit „Prankster Rap“ bekannt wurde, weiß, wie man ein Publikum unterhält. Mittlerweile nennt sich dieser Kanadier mit Klavierstudium und glühender Liebe zum Rap Chilly Gonzales und lebt in Paris.

In gewisser Hinsicht ist Chilly Gonzales die Fortsetzung von Helge Schneider mit anderen Mitteln. Wer ihn nur von seinen Platten kennt, kennt nur den halben Gonzales, denn seine Show gehört zu ihm wie sein Bekenntnis zur Angeberei. Ohne eine Portion Größenwahn ließe sich vermutlich auch nicht erklären, warum Gonzales zu seinem neuen Album „Ivory Tower“ gleich einen kompletten Spielfilm mitgeliefert hat, in dem er ein durchgeknalltes Schachgenie gibt.

Seinen Spaß am Kokettieren mit Großspurigkeit vergleicht Gonzales gern mit der Ästhetik des Rap, die er entschieden vom Indie-Rock abgrenzt: „Ich liebe Rap, weil Rap eine Kunstform ist, in der es um Wettbewerb und Unterhaltung geht. Alles, was ich schätze und woran ich glaube, sind Dinge, an die auch Rapper glauben. Die Rap-Ästhetik ist das Gegenteil der Indie-Rock-Ästhetik. Als Indie-Rocker darfst du über drei Dinge nicht sprechen: Ehrgeiz, Geld und im Vergleich zu wem du besser bist. Im Indie-Rock geht es darum, höflich zu sein, so zu tun, als sei man nicht ehrgeizig, und zu behaupten, man mache keine Unterhaltung, weil es schließlich Kunst ist.“

Dummerweise hängt das Publikum in den USA immer noch stark dem „Indie-Mythos“ an: „Ein Musiker sollte eine authentische, bescheidene Person und so was sein. Aber das bin ich nicht. Ich bin nicht authentisch, ich bin nicht bescheiden, ich bin ein Entertainer.“ Mit der Folge, dass man ihn dort kaum kennt. Das europäische Publikum hingegen ist für seine Mischung aus Entertainment und Musik wesentlich aufgeschlossener. „Eigentlich sollte man glauben, dass Entertainment eine amerikanische Erfindung ist. Aber man muss sich immer vor Augen führen, dass Musik in Amerika ein anderes Format ist als Entertainment. Das ist das Problem.“ Ob sein neues Album „Ivory Tower“ daran etwas ändern wird, bleibt abzuwarten.

Für seinen mittlerweile siebten Langspieler bekam Gonzales Unterstützung vom Berliner Technoproduzenten Boys Noize, der es in seiner Musik gern brachial krachen lässt. Die Kombination von derber elektronischer Beat-Basis und filigraner Klavierarbeit mag zunächst einmal abschreckend klingen, doch die Sache ist eindeutig gut gegangen. „Ivory Tower“ ist Trash auf höchstem Niveau. Zu gleichen Teilen clever und cheesy, schafft es Gonzales, seiner Vorstellung von „Schachmusik“ eine würdige Form zu verleihen. „Als ich am Album arbeitete, wurde ich süchtig nach Schach und fing an zu überlegen, wie Schachmusik wohl klingen würde. Und so entstand diese leicht intellektuelle, hirnorientierte Musik mit einer Menge Kraft und viel Zartheit.“

Das Pingpong-Schachgefühl

Die Arbeitsteilung zwischen den beiden war klar geregelt: Gonzales kümmerte sich um die filigraneren Momente, die grobmotorischen Teile überließ er Boys Noize. Statt viel Zeit im Studio zu verbringen, schickten sie sich die Musik über das Internet. Gonzales, der online regelmäßig bis zu fünf Schachspiele parallel spielt, fühlte sich an seine Obsession erinnert: „Dieses Hin und Her hatte viel Ähnlichkeit mit meinen Internet-Schachspielen, bei denen man den anderen überrascht. Ich dachte an ihn und den Moment, in dem er meinen Track erhält, wie er darauf reagieren würde. Es war so eine Art Pingpong-Schachgefühl.“

Die Musik von „Ivory Tower“ mit ihrem elektronischen Fundament klingt gelegentlich nach überdrehten Disco-Hymnen, andere Stücke erinnern an den Minimalismus Steve Reichs mit seinen repetitiven Klavierpatterns, unter die jemand wie selbstverständlich einen Techno-Beat gelegt hat. Hier und da steuert Gonzales einen Rap bei. Konzerttauglich erschienen ihm die programmierten Stücke allerdings weniger. „Ich habe mir überlegt, was außer meiner Show zu dieser Musik passen könnte, und so kam ich auf die Idee eines Films, in dem es auch um Schach geht.“

Nerdige Komödie

Der Film „Ivory Tower“ ist eine Low-Budget-Produktion, in der Gonzales als Hershell Graves bei den nationalen Schachmeisterschaften in Toronto eine neue, freiere Variante des Spiels, den „Jazz Chess“, erproben will. Mit dieser intuitiven Spielweise tritt er gegen seinen Bruder an, seit Jahren unangefochtener nationaler Schach-Champion, gespielt vom befreundeten House-Produzenten Tiga. Mit Peaches gibt sich eine weitere Musikerin aus Gonzales’ Umfeld in dieser Musik-Schach-Nerd-Komödie die Ehre. Der eigentliche Star des Films ist freilich die Musik.

Als Entertainer überzeugt Gonzales denn auch mehr auf der Konzertbühne. Dort unterläuft er gern die Erwartungshaltung seines Publikums mit Ansagen, die zwischen Witz und Frechheit schwanken. So kann es schon mal passieren, dass er nach einem Konzert auf die Bühne zurückkehrt und verkündet, er habe sich sehr gründlich überlegen müssen, ob seine Zuhörer wirklich eine weitere Zugabe wert seien. Freiheiten wie diese betrachtet er als Entertainer-Privileg: „Es ist ein großer Luxus. Ich sage auf der Bühne alles, was mir einfällt. Darum sage ich so viele Dinge, die den Leuten unangenehm sind oder die nicht komisch sind.“

Hier sieht er Gemeinsamkeiten mit seinem Kollegen Helge Schneider, dem er im Juli beim Duisburger Traumzeit-Festival in einer gemeinsamen „Piano Battle“ begegnet ist. „Helge und ich kommen mit so etwas durch. Weil die Leute wissen, dass es wahr und unwahr zugleich ist.“ Anders als die meisten Musiker, die Echtheit vortäuschen, würden sie genau das Gegenteil tun. „Wir machen etwas Künstliches, wie auf die Bühne zu gehen. Daraus versuchen wir etwas möglichst Echtes zu machen, indem wir all das sagen, was uns durch den Kopf geht, oder indem wir bestimmte Höflichkeitsregeln missachten.“

Vom Groll zehren

Diesem Prinzip folgt auch sein Song „The Grudge“, eine der wenigen Nummern vom neuen Album, die er ohne weiteres in sein Show-Programm übertragen konnte. Hier spricht er davon, wie er seinen Groll gegen andere als Antrieb braucht, wie Hass als Motor für seine Kreativität funktioniert. „Wenn ich jemanden als Feind oder als nicht besonders talentiert wahrnehme, in solchen Momenten brauche ich diese negative Energie, sie nährt mich, sie motiviert mich zum Handeln. Der Groll ist eine Weise, daran festzuhalten. Es wäre in gewisser Weise traurig, mit seinen Feinden Frieden zu schließen. Würde ich ohne diesen Hass überhaupt existieren?“

Statt in Selbstzweifel zu verfallen, arbeitet der Gonzales entschlossen an seiner Karriere. Sein Umzug von Berlin nach Paris habe da geholfen, es gebe dort viel mehr Überschneidungen zwischen Underground und „Overground“ als in der deutschen Hauptstadt, wo der Underground sehr isoliert sei. In Paris böten sich einfach bessere Möglichkeiten, erzählt er in Berlin. In Paris spielte er im letzten Jahr ein Konzert von 27 Stunden, mit dem er es ins Guinnessbuch der Rekorde schaffte: „Bei dem Guinness-Weltrekord geht es nicht bloß darum, 27 Stunden lang zu spielen, es geht darum, in dieses Buch zu kommen. Es ist ein großartiger Weg, eine musikalische Marke zu bilden, ich werde damit eine Art Musikathlet.“

■ Chilly Gonzales: „Ivory Tower“ (Gentle Threat)

■ Chilly Gonzales präsentiert den Film „Ivory Tower“ am 24. September im Fliegende Bauten, Hamburg, am 26. September im Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt, und am 28. September im Babylon Mitte, Berlin