: Sie waren die Guten
FLUCHTGESCHICHTEN Wie sich das geachtete Ehepaar Kreibich-Fischer plötzlich in Spione verwandelte
VON CHRISTIAN SEMLER
Renate Kreibich-Fischer, Psychologin, Künstlerin, Autorin und Ehefrau von Rolf Kreibich, der in den Jahren der großen Unruhe Präsident der Freien Universität Berlin war, hat ein spannendes Buch geschrieben. Es handelt vom Jahr 1968, einem raffiniert eingefädelten Fluchtunternehmen, mittels dessen ihre Verwandten aus der DDR geschleust wurden. Zwölf Jahre später, im März 1980, gab es ein Nachspiel. Polizei und „Dienste“ durchsuchten das Haus der Kreibichs und nahmen sie fest. Der Vorwurf: Spionage für eine fremde Macht.
Beide Kreibichs waren bei Errichtung der Mauer aus der DDR geflüchtet, studierten in Westberlin und verfolgten ihre Karrieren. Politisch tendierten sie zu Brandts Sozialdemokratie, unterstützten dessen Reform- und Ostpolitik, hielten sich stets in der Mitte und wahrten Abstand zu den radikalen Linken. Sie waren die Guten, die sich der Angriffe der Bösen von rechts und links erwehren mussten.
Kreibich-Fischer hatte ihrem Bruder versprochen, ihn, seine Frau und den Vater aus Dresden herauszuholen. 1968 schien die Zeit dafür gekommen. Der „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ hatte in der Tschechoslowakei gerade seinen Zenit erreicht und wurde von biertrinkenden Kurztouristen überschwemmt.
Die Kreibichs misstrauten kommerziellen Fluchthelfern und arbeiteten mit geradezu wissenschaftlicher Akribie einen eigenen Fluchtplan aus. Sie meldeten Reisepässe als verloren, um neu zu erhalten, die sie mit Fotos der DDR-Verwandten versahen, in die Tschechoslowakei schmuggelten, um sie erst dort mit den von den Grenzbehörden verwendeten Versionen der Eingangsstempel zu versehen. Die Stempel selbst waren von Kreibich-Fischer mühevoll gebastelt worden. Danach galt es, an verschiedenen Grenzübergängen mit auf denselben Namen ausgestellten Pässen wieder auszureisen. Die Fluchtgeschichte endet nach vielen Fährnissen mit einem Happy End und sie bietet insgesamt eine vergnügliche Lektüre.
Noch in ihrem fast dreißig Jahre später geschriebenen Buch schwingt die Empörung nach, die die Kreibichs März 1980 bei der Polizeiaktion gegen sie empfanden. Mit der Sturheit der vernehmenden Beamten kamen sie zu Recht. Was sie aber umwarf, war die konzentrierte Hetze der Medien, ihre Vorverurteilung als DDR-Spione in der Springer-Presse ohne jede Überprüfung der Vorwürfe. Kreibich wurde seines Amtes als Institutsleiter enthoben. Die führenden Berliner SPDler rührten keinen Finger und weigerten sich, die Argumente Kreibichs, des SPD-Aktivisten, für ihre Unschuld auch nur anzuhören.
Wie sich später herausstellte, hatte die Staatsanwaltschaft einfach der Denunziation eines früheren Dresdner Bekannten der Familie Fischer Glauben geschenkt. Nachdem sich ihre Unschuld herausgestellt hatte, mussten die Kreibichs um ihre Rehabilitierung kämpfen. Die Akten ihres Verfahrens konnte Renate Kreibich-Fischer zwei Jahrzehnte später erst nach langwierigen Verhandlungen einsehen. Deren Lektüre hat sie dazu gebracht, diese lesenswerte Story aus der Zeit des Kalten Krieges niederzuschreiben.
■ Renate Kreibich-Fischer: „Folgen einer Flucht. Leben im Zwielicht des Kalten Krieges“. WJS Verlag, Berlin 2010, 223 St., 19,95 Euro