: Noch nicht einmal ein Spatz in der Hand
REKONSTRUKTION Die Geschichte der DDR in einem Zensurfall: der wiederentdeckte Film „Die Taube auf dem Dach“
■ „Das Beil von Wandsbek“ (1951), Regie: Falk Harnack, nach einem Roman von Arnold Zweig. Nach der Premiere wegen „Mitleid mit den Mördern“ kritisiert und zurückgezogen, 1962 um 20 Minuten gekürzt.
■ „Sonnensucher“ (1959), Regie: Konrad Wolf. Nach einem Veto aus der UdSSR kurz vor der Premiere gestoppt, erst 1972 freigegeben.
■ „Ritter des Regens“ (1965), Regie: Egon Schlegel und Dieter Roth. Das Road-Movie wurde kurz nach dem 11. Plenum abgebrochen, das bereits gedrehte Material vernichtet.
■ „Jahrgang 45“ (1965), Regie: Jürgen Böttcher. Der einzige Spielfilm des prominenten Dokumentarfilmers verschwand 1965 im Tresor und konnte erst 1990 fertiggestellt werden.
■ „Spur der Steine“ (1966), Regie: Frank Beyer. Kurz nach der Premiere, inszenierten Krawallen und Hetzkampagnen in der Presse verboten, feierte der Film 1989 in Ost wie West Triumphe.
■ „Experimente“ (1981), Regie: Jürgen Gosch. Der improvisierte Film des Theatermannes Gosch und des Kamerastudenten Lars-Peter Barthel konnte nicht fertiggestellt werden.
■ „Jadup und Boel“ (1981), Regie: Rainer Simon. Als Test für die politische Zuverlässigkeit des Regisseurs in Auftrag gegebener und dann verbotener Film, 1988 stillschweigend in einigen Kinos gezeigt.
■ „Schnauzer“ (1988), Regie: Maxim Dessau. Von Defa-Generaldirektor Hans-Dieter Mäde persönlich abgebrochener Debütfilm, dessen bereits gedrehte Passagen vernichtet wurden.
(stark gekürzte Auswahl)
VON CLAUS LÖSER
Frisch aus Moskau vom Filmstudium nach Ostberlin zurückgekehrt, warf sich Iris Gusner voller Elan in die Arbeit für ihren ersten Spielfilm. Das war 1972. Die Zeit schien günstig. Die Dreiecksgeschichte um eine eigensinnige Frau zwischen zwei Männern, angesiedelt auf einer Großbaustelle, passte in die verhaltene Aufbruchsstimmung, die sich Anfang der 1970er Jahre in der DDR breitgemacht hatte. Sie bot der Regisseurin Gelegenheit zu einer nichtlinearen Erzählweise, wie sie etwa von ihrem sowjetischen Lehrer Michail Romm praktiziert worden war. Nicht mehr ein einzelner positiver Held mit einer zielstrebig „fortschrittlichen“ Entwicklung sollte im Zentrum ihres Filmes stehen, sondern mehrere Figuren, deren Denken und Handeln sich wechselseitig durchdringen.
Im Ergebnis entstand ein freundlicher Film mit menschlich-allzumenschlichen Helden, in einem zur Improvisation neigenden Stil. Von experimentellen oder gar umstürzlerischen Ambitionen blieb das Werk meilenweit entfernt. Dennoch wurde „Die Taube auf dem Dach“, Iris Gusners Debüt, im Frühjahr 1973 verboten. Was war geschehen?
Verbotsgeschichten sind immer auch Verschwörungen, bei denen der einen Seite alle Mittel eines Machtapparates zur Verfügung stehen, die andere aber auf Gerüchte und Spekulationen angewiesen bleibt. Im vorliegenden Fall lässt sich nicht endgültig klären, warum der Film nun tatsächlich vom schlimmstmöglichen Verdikt ereilt wurde: von der Zerstörung des Negativs und der offenbar billigend in Kauf genommenen Eliminierung aus der Filmgeschichte. Von diesem Schritt waren andere Arbeiten zuvor verschont geblieben – wenigstens die Negative und Fragmente überlebten meist im Staatlichen Filmarchiv der DDR.
Defa-Forscher Ralf Schenk hat anhand interner Korrespondenzen und Akten die Verbotschronik rekonstruieren können: Im Januar 1973 fand die Rohschnittabnahme statt, Nachvertonungen und Mischung folgten, für Oktober wurde ein Premierentermin festgelegt. Am 18. März, während der Endabnahme des Films, normalerweise ein rein formaler Akt, zeigte sich, dass der kulturpolitische Wind plötzlich seine Richtung geändert hatte: Von Verunglimpfung der Arbeiterklasse war da die Rede, von kleinbürgerlichen Haltungen und Angriffen auf die DDR – das übliche verbale Repertoire des Spätstalinismus also. Im Frühjahr 1973 wurden Versuche, den Film durch Umschnitte und Kürzungen „zu retten“, eingestellt, das Negativ wurde zunächst eingelagert, später aber vernichtet.
Erst als im Herbst 1989 eine Kommission die Zensurgeschichte des DDR-Films aufzuarbeiten begann, erinnerte man sich auch wieder an Iris Gusners Film. Eine Arbeitskopie wurde gefunden, davon eine schwarz-weiße Dup-Kopie gezogen, die 1990 einige Male auch vorgeführt wurde.
Kurioserweise setzte sich die Odyssee des Films auch nach dem Ende der DDR fort. Nach einer Vorführung ging die Kopie verloren und blieb für zwanzig Jahre verschollen. Erst dank intensiver Recherchen konnte ihr Verbleib aufgeklärt werden. Von der Defa-Stiftung sorgfältig digital restauriert, kann „Die Taube auf dem Dach“ nun doch noch seine Wiederaufführung feiern.
Filme können als sensible soziale und politische Seismografen fungieren, in totalitären Staaten genauer als in Demokratien. Verbotsfälle legen sich wie verrutschte Blaupausen über die wechselnden Phasen von Liberalisierung und Restriktion. Durch die Trägheit des Produktionsapparates und die Komplexität kulturbürokratischer Entscheidungen geschah es immer wieder, dass Produktionen unversehens nicht mehr in die aktuelle Parteilinie passten. Dann konnte der Stab über einzelne Kunstwerke gebrochen werden, oder auch über ganze Lebensentwürfe.
Bereits die Frühzeit der Defa war von solchen „Maßnahmen“ flankiert worden. Wolfgang Staudtes Mitläuferdrama „Rotation“ (1949) gelangte nur schmerzhaft gekürzt zur Premiere. Falk Harnacks Film „Das Beil von Wandsbek“ (1951) wurde nach seiner Uraufführung zurückgezogen und anschließend verboten. Nachdem die SED im Juli 1952 auf der II. Parteikonferenz das Dogma des „Sozialistischen Realismus“ als einzig verbindliches Richtmaß auch für die Filmherstellung ausgerufen hatte, war die scheinliberale Anfangsphase der Defa endgültig vorbei. Die Doktrin sorgte dafür, dass unangepasste Filme gar nicht erst gedreht wurden. Dennoch ereilte Konrad Wolf im Jahr 1959 das Verbot seines Uran-Bergarbeiter-Films „Sonnensucher“ – höchste Regierungskreise der Sowjetunion hatten ihr Veto eingelegt. Am massivsten brachen sich die Eingriffe nach dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 Bahn, als fast die gesamte Defa-Jahresproduktion einem Verbot anheimfiel.
Diesem Handstreich war eine zaghafte kulturpolitische Lockerung mit verheißungsvollen, weil innovativen Stimmen in Literatur, Musik, Bildender Kunst und vor allem Film vorangegangen. Endlich schien auch im ostdeutschen Kino eine „Neue Welle“ möglich, wie sie sich in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und seit Michail Kalatosows „Die Kraniche ziehen“ (1956) auch in der Sowjetunion längst manifestiert hatte. Die Defa wagte unter ihrem damaligen Direktor Jochen Mückenberger mutige Projekte. Als jedoch in Moskau 1964 die von Chruschtschow angeschobene Entstalinisierung durch Breschnew gestoppt wurde, gerieten die reformfreundlichen Kräfte in der DDR umgehend in die Defensive. Defa-Filme von Frank Vogel, Ralf Kirsten, Egon Günther, Gerhard Klein, Jürgen Böttcher und anderen wurden der Rückkehr zur spätstalinistischen Tagesordnung geopfert. Von diesem „Kahlschlag“ konnte sich der ostdeutsche Film nie wieder erholen. Um solch kritische Filme wie der Jahre 1965/66 künftig zu vermeiden, wurden von nun an die Zensurmaßnahmen weit ins Vorfeld der Produktionen verlegt.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass nach 1971 ausgerechnet Erich Honecker kurzzeitig als Hoffnungsträger einer liberaleren Kulturpolitik gehandelt wurde. Man hätte es besser wissen können und müssen – hatte doch niemand anderes als der karrierebewusste Saarländer 1965 als Großinquisitor des 11. Plenums fungiert. Nach dem kalten Putsch gegen seinen Lehrmeister Walter Ulbricht im Mai 1971 verkündete er aber: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben.“ Und tatsächlich legten künstlerische Zeugnisse jener Zeit wie Ulrich Plenzdorfs Novelle „Die neuen Leiden des jungen W.“ oder Heiner Carows Spielfilm „Die Legende von Paul und Paula“ (beide 1972) nahe, dass eine Öffnung vielleicht doch stattfinden könnte.
Der nun wiederentdeckte Spielfilm von Iris Gusner markiert im Nachhinein eine Scheidelinie: Als sich die scheinbar gewährten Freiheiten für die neue Parteiführung zur Bedrohung auswuchsen und der latenten Paranoia ausreichend Nahrung boten, griff man zu den üblichen Verhinderungen und Verboten. Mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 kulminierte diese Entwicklung zur letzten maßgeblichen kulturpolitischen Zäsur des DDR-Sozialismus vor der endgültigen Erosion im Herbst 1989.
Geblieben sind mehr als 750 Spielfilme eines versunkenen Landes. Viele demagogische, kunstgewerbliche, mittelmäßige; einige wenige mutige, sensible und innovative – eine soziale Topografie voller Widersprüche. Ihre Lektüre hat gerade erst begonnen. Nur erahnen lassen sich hingegen die Verluste der vernichteten Filme und abgebrochenen Werkbiografien.
■ Premiere der rekonstruierten Fassung im Berliner Kino Arsenal am 6. September in Anwesenheit der Regisseurin