AMERICAN PIE
: Nah an der Normalität

PREMIERE Ohne großes mediales Gedöns debütiert mit Jason Collins erstmals ein offen schwul lebender Basketballprofi in der NBA

Geschichte schreiben geht manchmal ganz einfach. Manchmal muss man nur von einem Stuhl aufstehen, den Trainingsanzug ausziehen, sich am Schiedsrichtertisch anmelden, ein paar Sekunden warten und ins Geschehen eingreifen. Der Moment, in dem Jason Collins am Sonntag bei der Basketballpartie der Brooklyn Nets bei den Los Angeles Lakers das Spielfeld betrat, war weiß Gott kein spektakulärer. Es gab nur spärlichen, aber angesichts der Tatsache, dass hier ein Ergänzungsspieler der Heimmannschaft eingewechselt wurde, dann doch überraschend lauten Jubel. Die Uhr, die anzeigte, dass noch 10 Minuten und 28 Sekunden in der ersten Halbzeit zu absolvieren waren, lief einfach weiter. Aber alle Beteiligten waren sich über die besondere Dimension des Ereignisses einig. „Das ist historisch“, fasste Jason Kidd, der Trainer der Nets, die allgemeine Einschätzung zusammen.

Nun also – endlich, muss man wohl sagen, und gut neun Monate nach seinem publikumswirksamen Coming-out – ist Jason Collins der erste bekennende Homosexuelle, der in einer der vier großen nordamerikanischen Profiligen aktiv war. Wie lange er der NBA erhalten bleibt, wird sich zeigen: Vorerst hat Collins nur einen Vertrag über zehn Tage erhalten. Die Nets dürfen noch einen weiteren Zehn-Tage-Kontrakt mit ihm abschließen, dann müssten sie ihn für den Rest der Spielzeit verpflichten.

Die Chancen darauf sind aber nicht schlecht: Die Nets haben Collins nicht deswegen verpflichtet, um sich als Vorreiter für Schwulenrechte zu profilieren, sondern vor allem, weil sie unter einem akuten Mangel an großen, kräftigen Spielern leiden. Der Center Brook Lopez fällt verletzt bis zum Saisonende aus, ein weiterer Power Forward wurde im Tausch gegen einen Aufbauspieler abgegeben. Im Kampf um die Playoff-Plätze brauchten die Nets unbedingt einen Malocher, der unter dem Korb die Drecksarbeit erledigt, Rebounds holt und den Gegner mit harter Verteidigung beeindruckt: eine Arbeitsplatzbeschreibung, die perfekt auf Collins passte.

Und der 35-Jährige erfüllte bei seinem ersten Auftritt die sportlichen Erwartungen. „Ich weiß, dass ich in der NBA mithalten kann“, sagte er nach dem Spiel in Los Angeles, „ich glaube, ich habe das heute bewiesen.“ In elf Minuten Spielzeit gelang ihm zwar kein einziger Punkt, aber er holte zwei Rebounds und handelte sich fünf Fouls ein: ein gelungener Arbeitstag für Collins.

Rundum gelungen verlief bislang auch die Aufnahme von Collins in der NBA, die ihren ersten offen schwulen Angestellten mit einem Statement begrüßte, in dem sie sich selbst stolz als „inklusive und respektvolle Umgebung“ beschrieb. Keine Pfiffe, keine negativen Äußerungen, ja selbst die Medienerregung blieb überschaubar, so dass man fast an Normalität glauben könnte. Der Liga-Tenor: Schön, dass wir es hinter uns haben, aber können wir uns wieder dem Sport widmen? Stellvertretend für die allgemeine Stimmung ließ Paul Pierce, einer der neuen Kollegen von Collins, wissen: „Rasse, Geschlecht oder Sexualität sind egal, wenn es darum geht, eine Mannschaft zu sein. Jeder hier kann tun und lassen, was er will. Aber es ist großartig, ihn hier zu haben und damit die Tür zu öffnen für viele andere.“

Wie weit die Tür aufgegangen ist, wird sich zeigen. Im Mai steht der NFL-Draft an, wo mit Spannung erwartet wird, ob Michael Sam, der sich Anfang Februar geoutet hat, der erste offen schwule Football-Profi werden wird. Jason Collin aber hat Geschichte geschrieben. Jetzt ist er erst einmal nicht mehr Schwulenaktivist, sondern ein Basketballprofi. Am heutigen Mittwoch müssen die Nets bei den Portland Trail Blazers antreten. Und Jason Collins sagt: „Ich kann mich jetzt gerade nicht um die Geschichte kümmern, ich muss die Spielzüge lernen, ich muss mich auf meinen Job konzentrieren.“ THOMAS WINKLER