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Archiv-Artikel

Sozialmärchen läuft im Oktober ab

Nach Pawel Althamers Aufruf für Besir Olcay zur Biennale bleibt das Schicksal des 18-jährigen Kurden ungewiss

Die Arbeit „Fairy Tale“ des polnischen Künstlers Pawel Althamer auf der Berlin-Biennale war ein echter Hingucker – gerade weil kaum etwas zu sehen war. In einem Raum auf dem Hof des Postfuhramts lag ein einzelner Turnschuh auf dem Boden. An der Wand hing ein Appell, der an den Innensenator von Berlin gerichtet war. „Mit Bestürzung habe ich von dem Fall von Familie Olcay erfahren“, schrieb Althamer und flehte: „Ich bitte Sie inständig, Besir und seiner Familie hiermit den Aufenthalt in der BRD aus humanitären Gründen zu gewähren, sodass er ein normales Leben führen kann.“

Der Schuh gehörte tatsächlich Besir Olcay, einem 18-jährigen Kurden, der nach 17 Jahren Aufenthalt in Berlin mit Mutter und vier Geschwistern in sein Herkunftsland, die Türkei, abgeschoben werden soll. Grund für die geplante Abschiebung: Der Vater, der inzwischen getrennt von der Familie lebt, hatte bei ihrer Einreise 1989 gegenüber der Ausländerbehörde falsche Angaben gemacht. Besir, der bei der Flucht aus dem kurdischen Teil der Türkei ein Jahr alt war, wuchs in Berlin auf, ging hier zur Schule und kann kein Türkisch. Trotzdem soll er nach dem Willen von Innensenator Körting (SPD) Deutschland verlassen.

Obwohl die Härtefallkommission den Verbleib der ganzen Familie empfahl, räumte die Innenverwaltung bislang lediglich der ältesten Schwester ein Bleiberecht ein, da sie aufgrund einer abgeschlossenen Berufsausbildung als „integriert“ gilt. Den 18-jährigen Besir belastet die drohende Abschiebung so stark, dass er wegen Suizidgefahr ins Krankenhaus eingewiesen wurde und unter starken Psychopharmaka steht.

Der in Warschau lebende Künstler Pawel Althamer griff diesen Fall von gefühlskaltem Bürokratismus auf, um daraus ein Märchen für die Biennale zu machen. Mit der Arbeit „Fairy Tale“ wolle er einem Menschen zu Legalität verhelfen und dabei auch eigene Erfahrungen mit Fremdheit verarbeiten, erklärte er. Althamers Projekt, das er zusammen mit den Biennale-Kuratoren, den Kunst-Werken und der Migrantenberatungsstelle BBZ durchführt, changiert zwischen Engagement, Zynismus, Interventionskunst und Sozialkitsch.

Es ist ebenso mutig wie naiv, mit einem Ausstellungsprojekt und einer Unterschriftenliste einen innenpolitischen Hardliner umstimmen zu wollen. Den ersten an ihn gerichteten Appell beachtete der Innensenator gar nicht; einen zweiten, den ihm Althamer und die Kunst-Werke Mitte Juni zusammen mit 6.300 Unterschriften übergaben, beschied er negativ. Weiterhin liegt Besirs Schicksal in der Hand der Politik: Seine Duldung gilt bis 14. Oktober, über seinen weiteren Verbleib entscheiden psychologische Untersuchungen und ein Termin beim Amt.

So lange singt die junge russische Straßenmusikerin Evgenia Umantseva, die Althamer bei seinen Recherchen kennenlernte, ihr „Lied für Besir“ in den Kunst-Werken. Zu jeder vollen Stunde ertönt es von CD an der KW-Kasse: „Junger Mann, Besir hat noch so wenig gebaut / doch sein Haus wird bald zerstört sein! / Die Geschichte ist brandaktuell / Jedes Opfer individuell, individuell.“

NINA APIN