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Archiv-Artikel

„Ich bin ja nicht der liebe Gott“

VORTRAG Jugendrichter Andreas Müller liest aus seinem Buch „Schluss mit der Sozialromantik“

Von SCHN
Andreas Müller

■ 52, ist seit 1997 Jugendrichter in Bernau bei Berlin und war enger Weggefährte der umstrittenen Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig.

taz: Herr Müller, ist es Sozialromantik, wenn Ihre Kritiker sagen, dass die Jugendkriminalität gar nicht gestiegen, sondern gesunken ist?

Andreas Müller: Mit Sozialromantik meine ich alles, was an der Wirklichkeit vorbeigeht. Dass es immer Jugendgewalt gegeben hat – Ende der 90er habe ich allerhärteste Springerstiefel-Gewalt erlebt – stimmt zwar genauso wie die Tatsache, dass die Anzahl der Delikte gesunken ist. Aber zu sagen, das es kein Problem gibt, bloß weil die Zahl der gefährlichen Körperverletzungen von 60.000 auf 55.000 zurückgegangen ist, das halte ich für falsch. Was mir nicht gefällt, sind ideologisch geführte Diskussionen.

Einer Ihrer größten Kritiker, der Kriminologe Christian Pfeiffer, wirft Ihnen vor, dass Sie sich zu sehr für ein härteres Vorgehen gegen jugendliche Gewalttäter einsetzen und zu wenig für Prävention ...

Jugendliche Intensivtäter sind doch bereits zu Tätern geworden – und Strafen ohne freiheitsentziehende Maßnahmen schrecken da niemanden ab.

Aber was nützen die, wenn bis zur Eröffnung eines Gerichtsverfahrens so viel Zeit vergeht, dass sich ein Jugendlicher kaum mehr an seine Tat erinnert – liegt nicht eher hier das Problem?

Klar, das ist auf jeden Fall auch ein großes Problem – und das muss auf jeden Fall geändert werden. Auch Arrest ist kein Allheilmittel – ich bin ja nicht der liebe Gott. Aber einen Jugendlichen bereits frühzeitig für ein paar Wochen in Arrest zu stecken, kann eben auch wirken – ich weiß das aus meiner 20-jährigen Erfahrung als Jugendrichter!

Sie treten nicht nur für ein schnelleres und härteres Vorgehen gegen jugendliche Intensivtäter ein, sondern auch für die Freigabe von Cannabis – ist da kein Widerspruch?

Nein. Bei der Freigabe von Cannabis ist natürlich der Jugendschutz geboten, aber ansonsten hat das Bundesverfassungsgericht schon vor zwanzig Jahren gesagt, dass Cannabis keine Einstiegsdroge ist. Wenn der Staat so viel Geld in die Bekämpfung von Intensivtätern stecken würde wie in die Bekämpfung von Cannabis, dann hätten wir eine Menge Probleme weniger, davon bin ich überzeugt. INTERVIEW: SCHN

19 Uhr, Presse-Club im Schnoor