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Archiv-Artikel

Nur Allah ist sein Richter

AUS STUTTGART HEIDE PLATEN

Rafik Y., 31 Jahre, steht nicht auf, um keinen Preis der Welt. Die Vorsitzende Richterin des Staatsschutzsenats des Stuttgarter Oberlandesgerichts, Christine Rebsam-Bender, hinterfragt gründlich: „Vor mir als Frau oder vor dem Gericht?“ „Sie sind“, sagt der Angeklagte, „eine liebe, nette Frau, aber ich kann nicht aufstehen für Sie!“ Erheben könne er sich nur vor Allah, seinem Gott, „ganz ehrlich!“. Der gläubige Sunnit Rafik Y. ist aufgeregt, redet schnell. Außerdem, so haspelt er, habe die Richterin „unseren Propheten beschimpft“. Das Gericht erwägt seine Argumente, verwirft sie, weil es auch „im islamischen Kulturkreis“, in Irak und Iran, normal sei, sich vor Richtern zu erheben. Und verurteilt Rafik Y. „wegen Ungebühr“ zu drei Tagen Ordnungshaft. Der ist wenig beeindruckt. Er sitzt seit Anfang Juni dieses Jahres, zusammen mit den Mitangeklagten Ata R., 32 Jahre, und Mazem H., 26, in Untersuchungshaft. Da können ihn ein paar Tage symbolischer Ordnungsstrafe nicht disziplinieren, wohl aber empören. Er belehrt: „Sie müssen wissen, Irak und Iran sind Diktaturen!“

Die Bundesanwaltschaft wirft den drei Männern aus Kurdistan vor, als Mitglieder der verbotenen ausländischen terroristischen Vereinigung Ansar al-Islam Mitglieder rekrutiert, Spenden gesammelt und – ein Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz – nach Kurdistan geschafft zu haben. Rädelsführer und europäischer Kontaktmann sei Ata R. Mazem H. soll ein enger Vertrauter und Gehilfe gewesen sein. Die drei sollen zudem 2004 ein Attentat auf den damaligen irakischen Ministerpräsidenten Ajad Allawi während eines Besuchs in Berlin geplant haben.

Allawi wurde am Morgen des 3. Dezember zu einer Veranstaltung in Berlin erwartet. Ende November habe Rafik Y. bei Ata R. telefonisch um die Erlaubnis zu dem Anschlag ersucht und sie am Abend des 2. Dezember einschließlich Zusage der Kostenübernahme auch bekommen. Anschließend habe er mit einem Helfer begonnen, den Tatort in der Charlottenstraße auszuspähen. Nur in allerletzter Minute, in den frühen Morgenstunden, hätten die Ermittler, die der Gruppe schon länger auf der Spur gewesen seien, den so kurzfristig vorbereiteten Mord verhindern können. Sie nahmen die Verdächtigen fest, durchsuchten deren Wohnungen, fanden aber, außer dem abgehörten Telefonat, keine weiteren Indizien für das Attentat, weder Pläne noch Waffen.

Stereotyp eines Islamisten

Rafik Y. ist ein Mann mit fast gespenstisch schmalem, blassem Gesicht, dunklen Locken, großen, braunen Augen, dicht zusammengewachsenen Brauen und einem dunklen Bart. So könnten Karikaturisten potenzielle islamistische Fanatiker zeichnen. Er ist, sagt ein Polizeizeuge, der den Lebenslauf recherchierte, in Bagdad geboren. Rafik Y. lebte im Irak als Händler. Er verkaufte, habe er angegeben, Elektrogeräte und Bücher. Nachforschungen des Bundeskriminalamts (BKA) ergaben noch eine Tätigkeit als Friseur. Seit 1993 sei er Oppositioneller, habe spioniert, Informationen über die irakische Armee an die muslimischen Fundamentalisten geliefert und sei dafür im Gefängnis gewesen. Im Sommer 1996 sei er über die Türkei in die Bundesrepublik eingereist. Er zahlte 6.000 US-Dollar an Schlepper für ein Flugticket von Ankara nach Berlin-Tegel.

Sein Asylantrag in der Bundesrepublik wurde abgelehnt, er durfte dennoch mit Duldung bleiben. Die Berufung gegen die Ablehnung war erfolgreich, seit 2001 besitzt er eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. In Berlin arbeitete er auf dem Bau, meldete mehrere Gewerbe an, eine Eisenflechterei und Gebäudereinigung, einen Backwarenhandel und einen Imbissstand in der Hasenheide. Seh erfolgreich sei er damit nicht gewesen. Rafik Y., sagte der Beamte auch aus, sei „schwierig im Umgang“, widerspenstig im Gefängnis.

Die Lebenswege des als Rädelsführer angeklagten Ata A. und seines Freundes Mazem H. sind weniger schillernd. Mazem H., seit 2001 in Deutschland, heiratete eine Vietnamesin, jobbte als Hilfsarbeiter in einer Autosattlerei und als Maschinenreiniger. Im Irak hatte er als Autosattler einen eigenen Laden, war Peschmerga, ein bei der kurdischen Miliz ausgebildeter Kämpfer. Der Vater starb im Bürgerkrieg. Auf der Flucht vor den Truppen des Irak habe er sich zu Fuß in den Iran gerettet, später sei er von der Türkei aus in einem Lastwagen nach Süddeutschland gebracht worden. Während Rafik Y. gestikuliert und dazwischenredet, folgen er und sein Freund Ata R., beide unauffällig, der Verhandlung konzentriert und ruhig.

Ata R. gab nach seiner Einreise in die Bundesrepublik 1998 bei den Behörden an, seine erste Frau sei erschossen worden. Er sei Oppositioneller, habe den Kriegsdienst verweigert, sei aber als Peschmerga an Waffen ausgebildet worden. Er sei über zwei Jahre im Gefängnis gewesen, gefoltert, geschlagen, mit Messern gequält worden und schließlich über Iran sowie die Türkei entkommen. Sein politischer Lebensweg ähnelt dem vieler kurdischer Iraker, die zuerst der kommunistischen oder gemäßigten Opposition angehörten, sich dann aber zerstritten, in immer neue Gruppierungen aufspalteten, islamistisch radikalisierten und dann gegenseitig als Verräter und Abweichler verfolgten. Ata R. schlug sich seit seiner Flucht nach Deutschland mit Gelegenheitsarbeiten als Gebäudereiniger und bei Fastfoodketten durch und ist verschuldet. Religiös sei er erst in Deutschland geworden. Er wurde lange von den Terrorfahndern des BKA beobachtet, mehrfach kontrolliert, seine Telefongespräche wurden abgehört.

Das Verfahren ist im Vorfeld hochgehängt worden, als stünden hochkarätige, brandgefährliche internationale Terroristen vor Gericht. Nach den ersten Verhandlungswochen verebbte das Interesse, dürfte jedoch bei den nächsten Verhandlungen im September aufgrund der aktuellen Ereignisse um den Bombenbauer aus Kiel erneut ins öffentliche Blickfeld geraten. Der Prozess in der Mehrzweckhalle des Hochsicherheitsgefängnisses in Stuttgart-Stammheim wirkt wie eine Gespensterveranstaltung. Das Gebäude aus grauen Betonplatten war in den 70er-Jahren als Ort der Verhandlung gegen die Gefangenen der Rote-Armee-Fraktion (RAF) errichtet worden. Seither steht es meist leer, wird aber dennoch – wohl aufgrund seiner Geschichte – strengstens bewacht. Am Eingang das erste von drei Drehkreuzen, jedes kracht nach jeder Umdrehung mit lautem Getöse in seine Halterung. Uhren, Laptops, Handys, Kopfbedeckungen müssen nach gründlicher Körperkontrolle abgegeben werden. Der dunkle Saal mit den drahtgesicherten Fensterschlitzen unter der Decke ist neonerleuchtet, eiskalt klimatisiert, die Prozessbeteiligten und die Handvoll Zuschauer sitzen weit auseinander, die Bundesanwaltschaft nahe an den Richtertisch gerückt. Die Akustik erfordert Mikrofone, doch die Anlage funktioniert schlecht, ist übersteuert, zu leise und nur begrenzt parallel schaltbar.

Übersetzungsprobleme

Prozesshinderlich ist – auch wenn sie akustisch zu verstehen ist – die Sprache. Das Gericht verfügte, dass die Dolmetscher in den kurdischen Dialekt Sorani übersetzen. Diesen hatten die Angeklagten in ihren Asylanträgen als Muttersprache angegeben, wohl auch um ihre Herkunft aus einem gefährdetem Gebiet zu dokumentieren.

Seit Beginn der Hauptverhandlungen fordern zwei der Angeklagten die Übertragung ins Arabische, jene Sprache, der sie sich religiös verpflichtet fühlen. Sorani, so Rechtsanwalt Sebastian Siepmann, Verteidiger von Rafik Y., verstehe er in Wirklichkeit nur sehr schlecht. Was seinen Mandanten nicht hindert, Übersetzungsfehler der Dolmetscher in ebenjenem Dialekt akribisch zu korrigieren.

Als erste Zeugen stellten Polizeibeamte des Bundeskriminalamts ihre reichhaltige, fast ausschließlich aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammengetragene Sammlung über die Entstehungsgeschichte der Ansar al-Islam vor, die sich vor allem aus den kurdischen Unabhängigkeitsbewegungen gegen den damaligen Diktator Saddam Hussein entwickelt hatte und die zeitweilig auch von den USA unterstützt wurde.

Von dem als Hauptbelastungszeugen gehandelten Lokman M. versprach sich das Gericht ebenfalls Aufklärung über die hierarchischen Organisationsstrukturen der Fundamentalisten. Es will überprüfen, ob der Vorwurf der Bundesanwaltschaft, sie seien Mitglied in einer Terrorgruppe, zutrifft. Lokman M. wurde in München deshalb und wegen anderer Delikte zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt. Er hatte in seinen eigenen Vernehmungen ellenlange Aussagen auch zum Geldtransfer aus Europa gemacht und zugegeben, dass er als gewerbsmäßiger Schleuser gearbeitet, mit Pässen gehandelt und Geld für Ansar al-Islam gesammelt habe. Zur Verständigung per E-Mail oder Telefon, sagte M. außerdem, seien Codewörter benutzt worden – etwa „Kranke“ für Gefangene, „Ärzte“ und „Krankenschwestern“ für Anwälte, „Schulden“ und „Kredite“ für Spenden. Aber eindeutig seien solche Begriffe nicht gewesen, sondern von „Person zu Person“ von anderer Bedeutung: „Manchmal sind auch wirklich Schulden gemeint.“ „Blätter“ und „Hefte“, dechiffrierte Lokman M., bedeuteten Geld: ein Blatt 100, ein Heft 10.000 Dollar oder Euro. Und was bedeute das Wort „Handel“? Der Dschihad, der Heilige Krieg, sei ein guter Handel, „weil man dabei nie Verluste erzielt, nur Gewinne“, entweder den Sieg oder „das ewige Leben und 72 Jungfrauen“. Und was, fragte Richterin Rebsam-Bender, heiße es, wenn jemand zu den „72 Jungfrauen geht“? Das verstehe sich von selbst, erklärte M., „das ist unser Glaube“: „Jeder wird belohnt im Paradies. Aber die 72 Jungfrauen sind nur für den Märtyrer.“