: Zwischen Folk und Nachkriegsmoderne
MUSIKFEST Pierre Boulez und Luciano Berio – die Berliner Philharmonie stellt zwei höchst unterschiedliche Komponisten des 20. Jahrhunderts vor. Zur Eröffnung spielte das London Symphony Orchestra unter Leitung von Daniel Harding
Viele Leute reden davon, dass Musik zu ihnen „spricht“, Empfindungen bei ihnen auslöst, ohne dass sie recht zu sagen wüssten, womit oder wie. Entsprechend verbreitet ist die Vorstellung von Musik als Sprache oder zumindest etwas Sprachähnlichem. Allerdings kann die Sache bisher alles andere als geklärt gelten. In der Musik mag es zwar einen „Notentext“ geben, doch in welchem Verhältnis stehen Musik und Sprache genau? Unterschiedliche vorläufige Antworten von Luciano Berio und Hector Berlioz konnte man am Freitag beim Eröffnungskonzert des Musikfests Berlin in der Philharmonie mit dem hoch artikulierten London Symphony Orchestra unter Daniel Harding hören.
Zum Konzept des Musikfests Berlin gehört, dass zwei wichtige Komponisten des 20. Jahrhunderts vorgestellt werden, die manchmal trotz ihrer musikgeschichtlichen Bedeutung im Konzertbetrieb etwas unterrepräsentiert sind. Für dieses Jahr fiel die Wahl auf Pierre Boulez und Luciano Berio, beide 1925 geboren, wobei Ersterer gegenüber Letzterem den Vorteil hat, dass er noch am Leben und als Dirigent durchaus gegenwärtig ist. Während Boulez als einer der Hauptvertreter der Nachkriegsmoderne gilt, liegen die Verhältnisse bei dem 2003 verstorbenen Berio nicht ganz so einfach.
Wer in den dogmatischen Sechzigern als „zeitgenössischer“ Komponist ernst genommen werden wollte, durfte eines ganz gewiss nicht tun: tonal komponieren. In seinen „Folk Songs“ von 1964 tat Berio aber nicht nur exakt das, sondern er vertonte Volkslieder aus unterschiedlichen Ländern für Kammerensemble und übertrug diese mündliche Tradition in einen Kunstliedkontext. Zum einen demonstriert er damit die kulturelle Dignität des Ausgangsmaterials, zum anderen macht er deutlich, dass folkloristische Authentizität nicht so billig zu haben ist. Daher transformiert er die schlichten Weisen zu einem dramaturgisch konstruierten Liederzyklus, bei dem das Spektrum von lyrischer Zartheit bis zu expressiver Derbheit reicht. Die US-amerikanische Mezzosopranistin Kelley O’Connor arbeitete die einzelnen Stimmungen präzise heraus, doch unterstrich sie den Kunstcharakter insbesondere in den englischen Liedern mit ein wenig viel Vibrato.
Texte von Lévi-Strauss
Musik ist Text, lautete das Credo Berios, und bei den „Folk Songs“ scheint ihm die Musik als ein illustrativer Text vorgeschwebt zu haben, der kommentiert, aber durch seine Intonation zugleich modifiziert. In seiner vier Jahre später komponierten „Sinfonia“ hingegen wird der Text zum Palimpsest, der auf mehreren Ebenen als Zitat, Kommentar und Collage funktioniert. Die Musik besteht zu großen Teilen aus Zitaten der 2. Symphonie von Gustav Mahler, aber auch Bach, Debussy oder Schönberg werden von Berio in diese merkwürdig amorphe Musik eingearbeitet. Ein Vokalensemble rezitiert oder singt dazu „herkömmliche“ Texte von Claude Lévi-Strauss und Samuel Beckett, oft durcheinander und kaum mehr verständlich.
So wie die Musik voll von historischen Bezügen ist – man verpasste Berio für seinen Ansatz das Etikett „postmodern“ –, verdichten sich auch die literarischen Vorlagen zu einem komponierten Text, in dem sich die Sprache als Klang manchmal fast vollständig von ihrer Bedeutung löst. Statt also zu behaupten, mit Musik ließe sich etwas sagen, scheint Berio in der „Sinfonia“ einfach den Spieß umzudrehen, als wolle er zeigen, dass Sprache und Musik als Text in erster Linie aus Rhythmus und Laut bestehen. Dennoch bleiben die zwei Ebenen klar unterscheidbar, wie wenn einer der Vokalisten zum Dirigenten klamaukhaft sagt: „Thank you, Mr. Daniel Harding.“
Ein unkomplizierteres Verständnis von Musik und Sprache findet sich in Hector Berlioz’ zweiter Symphonie „Harold en Italie“, mit der das Konzert endete. In dem vom Geiger Niccolò Paganini angeregten Werk sind die einzelnen Sätze als Szenen angelegt, kurze Beschreibungen kündigen das Programm an. Eine Solobratsche repräsentiert die Titelfigur, das Orchester steuert die Szenerie bei. Von einem Erlebniszustand zum nächsten schreitend, hat das Stück etwas merkwürdig Naives, Filmmusikartiges. Gelegentlich löst es sich aber von der Idee der Narration, und so streicht die Bratsche im zweiten Satz minutenlang gebrochene Akkorde, von Zimmermann als wunderbar konzentrierte Obertonstudie interpretiert. Vielleicht ist Musik ja bloß strukturiert wie eine Sprache.
TIM CASPAR BOEHME