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Archiv-Artikel

Ein runder Tisch fürs Weltbürgertum

In 17 Tagen werden in Berlin 112 Denker aus aller Welt die 100 wichtigsten Fragen der Menschheit beantworten. Ein Besuch beim Urheber dieser Idee

VON STEFAN KUZMANY

Uta Abt hat eine Frage. „Wer räumt eigentlich das Geschirr ab?“, sagt die 44-Jährige, die Frage ist nicht konkret, sondern eher theoretisch. Auf der Bierbank im Garten eines ehemaligen DDR-Kindergartens in Berlin steht gerade nicht viel gebrauchtes Geschirr, nur eine Wasserflasche und einige Gläser. Die Sonne scheint. Uta Abt macht gerade Mittagspause und sich Gedanken. „Oder anders gefragt: Warum übernimmt niemand Verantwortung für die Gemeinschaft? Kannst du mir das sagen?“ Tja, vielleicht ist der menschliche Egoismus der Grund. Aber diese Antwort befriedigt sie nicht. „Ich fänd’s gut, wenn ich mich jetzt ans Netz setzen könnte und eine Antwort auf diese Frage finden würde“, sagt Uta Abt.

Frische, die hilft

Auf der Wasserflasche auf dem Tisch klebt ein Etikett der Firma Volvic, und diese Firma hat offenbar gerade eine Kooperation mit der Unicef am Laufen – vom Preis jeder verkauften Flasche wird ein Bruchteil gespendet. „Frische, die hilft – Hilfe, die erfrischt“ steht auf dem Etikett.

Die Frage von Uta Abt, der alte Kindergarten, der Slogan auf der Flasche: Irgendwie hängt das alles zusammen. Und wie? Das lässt sich am besten an der Person Ralf Schmerberg, 42, erklären. Schmerberg ist Uta Abts Bruder. Und ihr Chef. Chef der Filmproduktionsfirma „Trigger Happy Productions“ mit Sitz im ehemaligen Kindergarten in der Berliner Swinemünder Straße. Schmerberg ist Unternehmer, Fotograf, Filmemacher, Werbefilmer, Visionär, Motivator. Er war mal Schwabe. Heute ist er ein Weltbürger. Und ein großer Selbstdarsteller. Jetzt hat er sich mit an die Bierbank gesetzt und spricht über seine Augen. Sie haben zwei unterschiedliche Farben, das eine sieht braun aus, das andere graublau. Je nachdem, mit welchem Auge er durch den Sucher seiner Kamera blickt, erzählt Schmerberg, macht er andere Fotos, das eine Auge sei sein Detail-Auge, das andere wie ein Radar. Schmerberg gestikuliert, hält sich die Zigarettenschachtel mal vors eine, dann vors andere Auge, und als er bemerkt, dass der Zeitungsfotograf gerade ein Bild von ihm machen will, wiederholt er die Geste noch mal, mit Schachtel, ohne Schachtel, linkes Auge, rechtes Auge.

Jetzt, sagt Schmerberg, ist die richtige Zeit, sich an die Welt zu verschenken. Er ist 42 Jahre alt und war bisher stets erfolgreich. Autodidaktisch hat er sich das Fotografieren beigebracht, hat zunächst Werbefotos geschossen, dann Werbe- und künstlerische Dokumentarfilme gedreht, ist international gefragt, aber zur Zeit läuft die Werbeproduktion auf kleiner Flamme, denn Ralf Schmerberg hat eine Vision, ein Projekt, und dieses Projekt heißt „Dropping Knowledge“ und ist ein Geschenk an die Welt.

Am 9. September, in siebzehn Tagen, werden sich in der Mitte Berlins, auf dem geschichtsträchtigen Bebel-Platz, 112 Denker, Wissenschaftler, Philosophen und Künstler aus aller Welt um einen riesigen runden Tisch setzen und im Laufe des Tages 100 Fragen beantworten, Fragen aus allen Wissens- und Lebensbereichen, die hundert Fragen der Menschheit. Sie werden diese Fragen nicht diskutieren, sondern jeder wird jede für sich beantworten. Beziehungsweise für die ganze Welt, denn vor jedem der 112 wird eine Kamera aufgebaut sein und ein Mikrofon, und so werden am 9. September über 700 Stunden Videomaterial entstehen, das die Grundlage bilden wird für eine Datenbank, für eine Plattform des sozialen Wandels, mit Beteiligungsmöglichkeit für jedermann, alles ohne Copyright, zur freien Benutzung und Verteilung, vernetzt nach einer neuartigen Methode, entwickelt am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Wow.

Hilfe, die erfrischt

Die Webseite sieht klasse aus, jeden Tag stellen die etwa dreißig Mitarbeiter einen neuen Kurzfilm ins Netz über Menschen, die Fragen stellen, und Menschen, die Antworten haben, es gibt ein Weblog und die Möglichkeit, seine eigenen Fragen einzusenden und die Fragen der anderen Benutzer zu bewerten, sodass die besten Fragen ganz oben auf der Liste landen. Gestern stand dort eine Frage von Michael Cauce, 32, aus Australien: „Wie überwinden wir die Gier der Konzerne, die Bürokratie der Regierungen und die Apathie des Mainstreams, um Umwelt und Gesellschaft positiv zu verändern?“

Sechs „Votes“ hat er bekommen, und wenn man die Zahl von 700 Stunden Gesamtantworten als Maßstab nimmt, dann wird jeder der 112 Berufenen am 9. September 3 Minuten und 45 Sekunden Zeit haben, sie zu beantworten. Aber das ist ja nur der Anfang, der Anfang von etwas ganz Großem.

Ralf Schmerberg hatte diese Vision nicht alleine, er hat viele Freunde und Bekannte in den USA, er kennt die ganze „enviromental scene“ dort, wie er sagt, und man darf annehmen, er kennt noch jede Menge anderer „scenes“. Das Startkapital für „Dropping Knowledge“ kommt von der amerikanischen Wallace Foundation, Schmerberg stellt seine Firma zur Verfügung, reiche Freunde des Projekts haben gespendet, und auch die Industrie. Fünf Millionen Euro kostet die Vision fürs Erste. Wer „Dropping Knowledge“ googelt, erhält als ersten Eintrag eine Seite des Versicherungskonzerns Allianz – „inspired by Dropping Knowledge“.

Wer hier mit den Augen rollt, ist von gestern. Hat die Sache noch nicht begriffen. Denn das muss ja nichts Schlechtes sein: In einer Zeit, in der, wie man hört, Gut und Böse immer mehr verwischen, in der das Interesse eines Versicherungskonzerns sich möglicherweise deckt mit jenem einer Umweltorganisation, nämlich das Interesse an der Vermeidung von Katastrophen. Und selbstverständlich muss ein Konzern daran interessiert sein, zu wissen, was die Menschen, denen er seine Produkte auch morgen noch verkaufen will, heute bewegt. Vielleicht ist es nur folgerichtig, dass sich jetzt nicht mehr nur die Langhaarigen und Wollsockenträger mit der Verbesserung der Welt beschäftigen. „Ich bin in der linken Szene aufgewachsen“, sagt Schmerberg, aber das war einmal: „Links, diesen Begriff verwenden wir ungern.“ Es passt wohl in die Zeit, dass jetzt die Profis die Sache in die Hand nehmen, Interessen vernetzen, Austausch schaffen, Brücken bauen.

Und Schmerbergs Leute sind Profis. Ältere, die schon in großen Werbeagenturen gearbeitet haben oder in der Kunst, Jüngere, die ihren Einstieg suchen in das Filmgeschäft, den Online-Journalismus, die Werbung, alle auf Zeit verpflichtet – nach dem ersten „Round Table“ wird man sehen, wie es weiter geht. Weitere sind geplant. Sind Teil der Vision. Uta Abt, die Schwäbin, wird darauf achten, dass nicht zu viel Geld ausgegeben wird: Sie kümmert sich bei „Trigger Happy Productions“ um die Finanzen.

Prekär beschäftigt für einen guten Zweck, und dabei ganz locker und immer gut drauf. Einmal in der Woche wird gemeinsam vegetarisch gegessen, das Essen kommt aus der Gemeinschaftsküche (daher wohl Frau Abts Frage nach dem Geschirr), alle sind sowieso per du, aber wenn einer zu spät kommt, kann der Chef trotzdem ganz schön sauer werden. Aber nicht heute. Heute ist so schönes Wetter, „da haben wir die Jungs zum Segeln geschickt“, sagt Schmerberg. Im Garten steht ein Baum, an den die Mitarbeiter Souvenirs ihrer Reisen gehängt haben, positive Energie soll der verbreiten. Ist die Welt nicht doch sehr schön, trotz aller Probleme?

Mittlerweile hat die Werbekampagne für den „Rount Table“ eine neue Ästhetik, aber an der Wand hängt noch ein altes Bild. Auf dem Bild sieht es beeindruckend aus: Auf dem Bebelplatz, in der Mitte Berlins, hat sich eine riesige Menschenmenge versammelt um den größten Konferenztisch der Welt. Die Menschen drängen sich, um jenen zuzuhören, die am Tisch sitzen. Einer der Zuhörer etwas abseits, aber doch mitten im Geschehen. Ein Pfeil deutet auf die einzelne Person, beschriftet: „You are here“ – „Sie befinden sich hier“. Jeder kann dabei sein und mitwirken, wenn 112 Berufene die großen Fragen der Menschheit beantworten, das ist die Botschaft. Aber auf den ersten Blick ist klar: Das ist ein Werbebild.