: Macht der Sozialstaat faul, bequem, unfrei?
In einem Programmforum mahnt ausgerechnet Wolfgang Schäuble die soziale Verantwortung der Bessergestellten an
BERLIN taz ■ Die Frage trifft mitten ins Herz. „Kann die CDU eine Wahl mit dem Schlagwort ‚Freiheit‘ gewinnen“, will Moderator Christoph Keese wissen, „wenn die SPD unter der Flagge der ‚Gerechtigkeit‘ antritt?“
Auf dem Podium sitzen fünf Profis: ein Bundesminister, ein Ministerpräsident, zwei Uniprofessoren, ein Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche. Jeder Einzelne von ihnen erkennt sofort, dass sich in dieser Frage die ganze Angst und Orientierungslosigkeit der Christdemokraten widerspiegelt. Und jeder Einzelne spürt wohl auch, dass dahinter eine noch viel brisantere Frage lauert, nämlich die, ob Angela Merkel, heute unangefochtene Kanzlerin, im Bundestagswahlkampf 2005 vielleicht doch die falsche Kandidatin war, weil sie mit ihrer radikalen Empfehlung, mehr Freiheit zu wagen, selbst die CDU-Wähler verschreckte. Sind die Antworten der fünf Diskutanten deswegen so politisch korrekt?
„Nein“, antwortet der Philosoph Wolfgang Kersting von der Universität Kiel, „ein solcher Wahlkampf wäre nicht zu gewinnen. Gerechtigkeit ist den Deutschen tief eingebrannt. Man braucht eine freiheitsgestützte Gerechtigkeitsdefinition.“
„Nein“, antwortet auch Prälat Stephan Reimers von der Evangelischen Kirche. „Mit ‚Freiheit‘ allein kann man den Menschen nicht erklären, was eine Gesellschaft zusammenhält.“
„Nein“, sagt Wolfgang Schäuble, Merkels Innenminister. „Freiheit und Gerechtigkeit gehören zusammen.“
„Nein“, heißt es auch beim niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff. „Immer noch aktuell ist der von Kurt Biedenkopf 1976 entworfene Slogan ‚Sicher. Sozial. Frei‘.“
„Vielleicht“, meint der Migrationsforscher Klaus Bade von der Universität Osnabrück. „Wenn man sagt, Freiheit wozu?, dann könnte man die Wahl gewinnen.“
Damit war das zweite Forum des CDU-Programmkongresses vorüber. Moderator Keese, Chefredakteur der Welt am Sonntag, hatte seine provokante Frage ganz ans Ende gestellt. Sie beschloss eine lebhafte Debatte zu einer der wichtigsten Leitfragen dieser Konferenz: Wie ermöglichen wir die freie Entfaltung der Person und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft?
Die Antworten ganz am Ende waren deswegen so aufschlussreich, weil sie eigentlich nicht zum Grundtenor passten, der die ganze Veranstaltung bis dahin durchzogen hatte. Die Runde war sich relativ schnell darin einig geworden, dass die Deutschen die Sicherheit mehr schätzen als die Freiheit. Professor Kersting hob zwar hervor, dass „Freiheitsunlust kein Bestandteil des deutschen Nationalcharakters“ sei. Aber er fand sowohl auf dem Podium als auch im Saal viel Zustimmung für seine These, dass der „opulent ausgestattete Sozialstaat“ in den zurückliegenden zwanzig, dreißig Jahren zu einer „Freiheitsentwöhnung“ der Deutschen geführt hätte. Der Sozialstaat dürfe also nicht länger als „Betreuungsveranstaltung“, sondern müsse als „Freiheitsermöglichungsprogramm“ organisiert werden.
Der einzige, der widersprach, war ausgerechnet – Wolfgang Schäuble. „Ich bin ein bisschen zögerlich, das zu akzeptieren“, sagte er. Der Innenminister erinnerte daran, dass einige Vermögende Freiheit als Egoismus missverstehen würden, der die Freiheit am Ende zerstöre. „Diejenigen, denen es besser geht“, so Schäuble, „werden sich zu ihrer Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft und den Schwächeren bekennen müssen. Sonst geht es ihnen bald nicht mehr besser.“ Er interpretierte diese Verantwortung ausdrücklich auch global und mahnte die Hilfe Europas für Afrika an.
Weniger Staat – das war die eine Grundlinie der Debatte. Die andere – endlich die Integration der Einwanderer in die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu garantieren. Klaus Bade warf der CDU „demonstrative Erkenntnisverweigerung“ über viele Jahre hinweg vor. „Wir können uns die Einwanderer nicht mehr aussuchen. Sie sind da“, sagte Bade. „Die Politik sollte aufhören, sie zu denunzieren. Wir müssen in sie investieren.“ Das Überraschende: Niemand hielt dagegen. Die CDU lernt wirklich. JENS KÖNIG