„Behutsam vorgehen“

„Der freie Wille“ ist ein Film, der Nähe zu einem Vergewaltiger aufbaut. Ein Gespräch mit dem Regisseur Matthias Glasner über Aggression, das Freud’sche „Es“ und die Abneigung gegen Symbole

INTERVIEW BIRGIT GLOMBITZA

taz: Herr Glasner, Sie sollen 1996 zu einem NDR-Redakteur gesagt haben: „Der Film ist schwarzweiß, es gibt kein Drehbuch, und am Ende sind alle tot.“ Sie bekamen 200.000 DM für „Sexy Sadie“. Was haben Sie diesmal dem WDR, arte und der Bavaria erzählt?

Matthias Glasner: Ich hab’ gesagt, ich würde gerne einen Film machen, in dem wir Zeit mit einem Vergewaltiger verbringen und alles aus seiner Perspektive sehen. Ich hab’ auch gesagt, dass es sein kann, dass es kein festes Drehbuch gibt, nur einen losen Leitfaden. Und dass er sehr, sehr lang wird und kein Film, den man um 20.15 Uhr im Fernsehen zeigen kann. Aber dafür wird er auch nicht so viel Geld kosten. Habt ihr das Vertrauen, euch auf dieses Abenteuer einzulassen? Das haben alle bejaht. Die Finanzierung war nicht das ganz große Problem. Schwierig war es, eine richtige Form zu finden. Und das hat am Ende bis zum Dreh sechs Jahre gedauert.

Wegen des Themas?

Es war nicht so, dass mich das Thema erschreckt oder belastet hat. Es war mehr, dass ich künstlerisch erst einmal nicht weiter kam. Einer Weile dachte ich, ich konzentriere mich ausschließlich auf Maßregelvollzug in so einer Mischform aus Realem und Fiktion, ein bisschen wie „My Own Private Idaho“ von Gus Van Sant, der ja auch in der Stricherszene von Portland gedreht und River Phoenix und Keanu Reeves da mit eingebaut hat. Das wollte ich mit Jürgen Vogel und mit realen Vergewaltigern machen. Die Knastleitung meinte aber: No way! Drei Jahre später hatten wir einen Maßregelvollzug und Häftlinge, die sich bereit erklärten mitzumachen, und alle notwendigen Genehmigungen. Aber da hatte ich die Idee bereits verworfen. Dann hab’ ich versucht, das Ganze psychoanalytisch anzugehen, die Kindheitsgeschichte von Theo und Nettie zu beleuchten. Ich merkte aber, dass das ein furchtbar unkünstlerischer Vorgang ist.

Kindheitsgeschichte und jeder psychologische Erklärungsansatz sind jetzt konsequent ausgespart.

Ich wollte auf andere Weise eine Nähe herstellen zwischen Zuschauer und Figur. Das bedeutet, nicht nur die Figur muss sich aufmachen, sondern auch der Zuschauer. Und das geht nur, wenn er durch den Film auch auf sich selbst zurückgeworfen wird – auf seine Gefühle, seinen Widerwillen, seine Faszination, seine Wut. Er soll seine eigene Menschlichkeit spüren in ihren verschiedensten Ausformungen.

Gilt das auch für die Frauen im Publikum?

Auch die werden eine Begegnung mit der eigenen Aggression und innersten Wut haben, vermute ich. Mir haben Frauen nach einer Vorführung erzählt, dass sie bei der Szene mit der zweiten Vergewaltigung innerlich riefen: „Bitte, Theo, mach das nicht! Du machst alles kaputt!“ Und als es vorbei war: „Der arme Theo!“ Das, was mich interessiert, ist völlig unabhängig vom Geschlecht. Ich hoffe einfach, dass man eine Erfahrung gemacht hat, eine Grenzüberschreitung, die man nicht vergisst.

Gibt es eine angemessene Darstellung von einer Vergewaltigung? Eine, die frei von jeder Art Voyeurismus ist? In den ersten zehn Minuten sieht man, wie Theo eine Frau vom Fahrrad reißt, sie brutal niederschlägt, sie beschimpft, sie noch mal prügelt, sich in die Hände spuckt …

Ich denke ja, denn nichts daran ist – verdeckt oder offen – „geil“. Die ersten zehn Minuten sind wichtig, um zu erklären, worum es hier geht. Dass wir nichts verharmlosen. Es heißt ja immer, so was könne man der Fantasie des Zuschauers überlassen, Ich will aber keine Vergewaltigungsbilder im Kopf des Zuschauers erzeugen. Was wäre denn das auch für eine zynische Haltung! Ich will, dass er einmal eins zu eins sieht, was Theo tut, welches Leid er einer Frau zufügt. Es wird und soll ihm erst einmal schwerfallen, zu diesem Täter Nähe zu empfinden.

Sie haben einmal gesagt, Sie wollten einen „zarten Film über den Terror der Einsamkeit“ machen. Was ist „zart“ in „Der freie Wille“?

„Zärtlich“ hatte ich gesagt oder geschrieben. Das soll heißen, dass ich vorsichtig vorgegangen bin. Natürlich passieren grausame Dinge in meinem Film, aber die Art, wie ich das zeige, den Rhythmus, mit dem ich das erzähle, den Raum, den ich den Figuren gebe, da wollte ich behutsam vorgehen. Ich wollte keinen Schocker machen. Ich wollte auch keinen provozieren. Der Film verteidigt nichts, er versucht nichts weiter, als Nähe aufzubauen. Ein halbes Jahr vor den Dreharbeiten habe ich „Lost in Translation“ gesehen, und auf die Art und Weise, mit der Sophia Coppola an ihre Figuren rangeht, wollte ich an meine rangehen. Die tun zwar bei mir schreckliche Dinge, aber die Haltung ist die gleiche.

Orientiert sich die Kamera auch an „Lost in Translation“?

Ja, die ist ganz ähnlich. Auch bei mir ist die Kamera in erster Linie dabei und schaut den Figuren mit einer gewissen poetischen Zärtlichkeit zu. Die Stimmung der Landschaft, der Architektur, die die Figuren umgibt, sind vergleichbar.

An der Stelle des Hotels, seiner hermetischen Gänge, seiner Bar steht bei Ihnen Mülheim mit seinen Bushaltestellen, Eisdielen und Werbeflächen?

Ja genau, es gibt ganz ähnliche Kadragen und Stimmungen. Das Fließen, das Sich-treiben-Lassen. Die Kamera in beiden Filmen versucht, die Einsamkeit ein bisschen zu zelebrieren.

Warum stellen Sie Theo jemanden wie Nettie zur Seite, eine Frau, die von ihrem Vater emotional missbraucht wurde?

Vor dem Drehbuch hatte ich eine Szene ganz deutlich vor Augen, nämlich die, in der eine Frau zu Theo sagt: „Du, mit uns das hat gar keinen Sinn. Ich mag Männer nicht und will keine in meinem Leben“ Worauf er entgegnet: „Das trifft sich gut, ich mag Frauen auch nicht besonders.“ Ich dachte, das ist 'ne super Ausgangsposition für deren Beziehung. Nur dann lassen sie sich in Ruhe und können aufmachen. Er hasst Frauen, deren Sexualität ihm zu offensiv erscheint. Netties Problem ist, dass ihr Vater sie wie eine Ersatzehefrau behandelt hat, die er voll und ganz bevormunden kann. Und Theo macht das nicht. Sie wollen nichts voneinander. In dieser Situation haben beide das Gefühl, dass sie ihren freien Willen noch besitzen.

Soll Nettie auch eine Reinheit ins Spiel bringen, um Theos Erlösung wenigstens vorstellbar zu machen? Schließlich endet der Film mit einem Theo, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, im Schoße einer weinenden Nettie, mit einer Pietà.

Diese blöde Pietà! Komischerweise hat mich noch nie ein normaler Zuschauer darauf angesprochen, sondern immer nur Journalisten. Ich hab’ dann immer das Gefühl, dass Journalisten sich selbst gefallen wollen, wenn sie diesen Begriff nehmen. Und das Erstaunliche ist doch, dass der Film das in keiner Weise nahelegt. Pietà würde bedeuten, dass der Film zurücktritt und ein Bild macht. Wir sind mittendrin in Netties absoluter Handlungslosigkeit, hier ist eine Frau, die absolut nicht mehr weiß, was sie tun soll. Da ist nichts Symbolisches dran, nichts Überhöhtes. Das ist alles sehr unmittelbar und direkt.

Aber im ganzen Film geht es auch um Schuld und die Sehnsucht nach Erlösung – und sei es die von der eigenen Triebhaftigkeit. Eine zentrale Szene spielt in einer Kirche, in der Theo eigens Musiker organisiert hat, die für Nettie „Ave Maria“ geben.

Trotzdem bin ich sehr vorsichtig mit symbolischen Verweisen in Filmen, ich mag auch keine Metaphern und gehe lieber instinktiv vor. Ich fühle mich in meinen Filmen wie im Leben einfach hingezogen zu Figuren, die Schuld auf sich laden, die sich dessen bewusst sind und verzweifelt versuchen, diese Schuld wieder loszuwerden. Insofern ist auch Theo ein Sünder mit Sehnsucht nach Erlösung. Als solcher sitzt er meinetwegen in dieser Szene auf der Kirchenbank. Aber er nimmt nicht die Sünden der Welt auf sich. Mich beschäftigt vielmehr, warum tun wir so oft das, was wir eigentlich nicht tun wollen. Was ist also eigentlich das, was wir tun wollen?

Dann ist „Der freie Wille“ eine Versuchsanordnung?

Genau. Interessant ist auch, dass die einzige Heilung für Theo, so schrecklich das klingt, die Vergewaltigung ist. Denn nur wenn er vergewaltigt, ist er bei sich selbst. Das haben mir einige Psychologen während der Recherche erklärt. Der Druck, vergewaltigen zu wollen, den muss man sich wie einen gewaltigen Kopfschmerz vorstellen. Die Vergewaltigung ist Theos Tablette. Das beleuchtet die Frage nach dem „freien Willen“ noch einmal ganz anders.

Kann sich Theo gegen die Tat entscheiden?

Eine ganze Weile kann er es ja. Er kann ja auch entscheiden zu lieben. In meinen Augen hat er sich nicht verliebt, er hat es entschieden, verliebt zu sein, er will es versuchen. Der ist entscheidungsfähig. Das ist schwer zu erklären. Theo hat diesen Hass auf Frauen und auf sich selber, wenn er den nicht auslebt, fühlt er sich nicht als Mann oder als Mensch. Zwischendurch kommt er immer wieder in Phasen, in denen er denkt, er hat das Recht zu vergewaltigen. Hat er das dann entschieden, hat das Freud’sche „Es“ es dann entschieden? Ich weiß es nicht. Ich kann mich an Situationen mit Frauen erinnern, da wurde es sehr intensiv, da ist Alkohol mit im Spiel, man denkt „ich will sie“. Wenn Sie dann „nein“ sagt und das vielleicht etwas Kokettes hat, denkt man: „Ist dieses Nein ein Nein? Die will es doch auch.“ Man erschreckt selber über sich selbst, aber gleichzeitig spürt man, da ist eine große, eine unheimliche Kraft in einem. Und da ist dann die Frage: Wer bestimmt hier, was passiert? Und in allerletzter Sekunde kommt dann von irgendwoher die Entscheidung gegen den eigenen Trieb.

War Ihnen bei „Der freie Wille“ sehr an einer Täter-Opfer-Symmetrie gelegen? Theos Freundin Nettie ist selbst Opfer ihres Vaters, der sie viele Jahre emotional missbraucht hat. Dann gibt es da noch das Opfer von Theo, das später Nettie mit einer Klobürste vergewaltigt.

Die Umdrehung, dass ein Opfer zur Täterin wird, war nicht so sehr mein Impuls. Das ist für mich selbstverständlich, dass jeder Mensch beides ist. In der Szene mit der Klobürste ging es mir vor allem um Nettie, die gerade erfahren hat, dass der einzige Mann, der je gut zu ihr war, ein Vergewaltiger ist. Sie hat Angst davor, zu ihm zu gehen, deswegen unternimmt sie diese sehr egoistische Tat, nämlich ein Vergewaltigungsopfer aufzusuchen. Es ist natürlich klar, dass das Opfer das als ungeheure Grenzüberschreitung verstehen würde. Bei meinen Recherchen habe ich erfahren, dass vergewaltigte Frauen häufig über die Jahre den Wunsch entwickeln, körperliche Gewalt anzuwenden und zurückprojizieren in die Situation damals mit dem Gedanken „Ach hätte ich dem nur kräftig in die Eier getreten, dann wäre alles ganz anders gekommen.“

„Der freie Wille“. Regie: Matthias Glasner. Mit Jürgen Vogel, Sabine Timoteo u. a., Deutschland 2006, 163 Min.