: Schweden abseits traditioneller Wege
STOCKHOLM taz | Die neunjährige Grundschule absolviert, aber keinen Gymnasialabschluss gemacht. Ein paar Jahre lang in verschiedenen Jobs gearbeitet, an der Volkshochschule fehlende Englischkenntnisse nachgelernt und dann erfolgreich ein Hochschulstudium absolviert. In Schweden ist ein solcher Einstieg in eine akademische Berufslaufbahn keine Ausnahme.
Auf Umwegen an die Uni
Abitur gibt es in Schweden ebenso wenig wie einen speziellen Berufsschulzweig. Auch berufsvorbereitende Ausbildungen finden am Gymnasium statt, das rund 90 Prozent nach der neunjährigen Grundschule besuchen. Die Hochschulzugangsberechtigung wird grundsätzlich mit einem „bestanden“ in den Kernfächern Schwedisch, Mathematik und Englisch erworben. Auf dem „traditionellen“ Weg an die Uni – als Erstsemester eingeschrieben unmittelbar oder spätestens 5 Jahre nach einem gymnasialen Abschlusszeugnis – gelangen nur 36 Prozent der schwedischen StudentInnen. Eine Mehrheit von fast 60 Prozent der Hochschulabsolventen hat Umwege gemacht und erst nach mehreren Jahren Berufsleben zur Uni gefunden. Letztendlich schließen 40 Prozent eines Altersjahrgangs eine Hochschulausbildung ab.
So durchlässig ist das schwedische Bildungssystem. Genauer gesagt: War es bis vor zwei Jahren. Wenn die Sozialdemokraten, Linken und Grünen nach den Parlamentswahlen am 19. September die nächste Regierung bilden können, wollen sie eine Mauer wieder einreißen, die die jetzige konservativ-liberale Regierung zum Wintersemester 2008/09 hochgezogen hat. Damals war die sogenannte „25:4-Regel“ abgeschafft und eine 8-Jahre-Grenze eingeführt worden. Älter als 25 Jahre und mindestens 4 Jahre Berufserfahrung reichen seither nicht mehr als Studienzugangsberechtigung und können einen Gymnasialabschluss nicht länger ersetzen. Und zusätzlich verschwand die Möglichkeit, ein ungenügendes Gymnasialzeugnis „aufzupolstern“, wenn dieser Schulabschluss länger als acht Jahre zurücklag.
Mit den Argumenten Gerechtigkeit und „Effizienz“ sind diese und einige weitere Kanäle, die in den internationalen Bildungsberichten immer als vorbildlich bezeichnet wurden, verstopft worden. Auch in Schweden würden jetzt Bildungschancen „mehr als zuvor von Herkunft und sozialem Umfeld und weniger von Begabung, Ambitionen und Träumen bestimmt “, kritisiert das rot-rot-grüne Bildungswahlmanifest. Und verspricht diese „Reform“ wieder zu kippen.
REINHARD WOLFF