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Archiv-Artikel

Fußwaschung auf Kiefernholzboden

EPIPHANIE Und er taugt doch zum Liebesroman: In seinem bewegenden „Buch der Gleichnisse“ erzählt Per Olov Enquist im Kern eine lange zurückliegende Initiationsgeschichte

Der Notizblock ist wieder da. Im Februar 2011 liegt er in der Post; der Block, in den Elof, der Vater, seine Gedichte hineingeschrieben hat, und den die Mutter unmittelbar nach Elofs Tod, vor 76 Jahren, dem Feuer übereignet haben will. So hat sie es erzählt, so steht es mittlerweile auch in mehreren von Per Olov Enquists Büchern. Die Leerstelle allerdings ist dadurch noch nicht gefüllt, denn in dem (in der Tat angesengten) Notizblock, den der mittlerweile knapp 80-jährige Erzähler nun unverhofft in den Händen hält, fehlen neun Seiten. Ein altes Lebensrätsel wird durch ein neues ersetzt: Warum hat die Mutter diese neun Seiten entfernt? Waren sie ihr, der streng Gläubigen, zu explizit erotisch? Sprach aus ihnen gar, was noch ungeheuerlicher wäre, eine Leugnung der Existenz Gottes?

Es sind unendlich viele Fragen, um die Per Olov Enquists „Buch der Gleichnisse“ in neun Kapiteln kreist; Enquist-Leser kennen die Motive und Figuren, die hier in scheinbar wilden Assoziationsketten durcheinanderschießen, zum Teil aus vorangegangenen Büchern: die Großmutter, die nach dem Tod von sechs ihrer Kinder den Verstand verlor. Das „Schnapsen“, der Alkoholismus, der Enquist Ende der achtziger Jahre beinahe das Leben kostete. Und, selbstverständlich, die Religion, die Einflüsse der Pfingstbewegung, unter denen Enquist aufgewachsen ist und von denen er sich nicht lösen kann (und möglicherweise auch gar nicht lösen will); das stetige Gefühl des Ungenügens, des moralischen Versagens, der Schuld. All das ist da, und es scheint, als bekäme es im „Buch der Gleichnisse“ noch einmal einen drängenderen, forcierteren Ton, der angetrieben ist vom Tod: Vom anderen Ufer des Flusses, so heißt es immer wieder, grüßen die Freunde herüber. Enquist schreibt auf, was noch aufzuschreiben ist, bevor auch er die Seiten wechselt.

All die Motivkomplexe umschließen aber letztendlich nur den eigentlichen Kern dieses, wie man spätestens im letzten Kapitel bemerkt, sorgfältig und raffiniert komponierten und nur auf den zweiten Blick anarchischen Buches, das den Untertitel „Ein Liebesroman“ trägt. „Ich kann keine Liebesromane schreiben“, sagt der Erzähler, „dazu tauge ich nicht.“ Das sagt er, als alles schon geschehen ist, am Ende des Buchs, das gleich mehrere Liebesgeschichten in sich trägt (die zur Mutter wäre eine weitere), vor allem aber die zur „Frau auf dem astfreien Kiefernholzboden“. Ihr gehören die ersten, zu diesem Zeitpunkt noch rätselhaften Zeilen des Romans, und die Verbindung zu dieser Frau ist eine Ungeheuerlichkeit; ein Ding der Unmöglichkeit, so unaussprechlich, dass Enquist gelobt hat, niemals etwas davon zu erzählen, „aber inzwischen sind ja so viele Jahre vergangen. Da kann es jetzt auch egal sein.“

Eine Initiationsgeschichte: Er ist 15, sie 51 Jahre alt. Sie liegt im Gras vor ihrem Haus, er kommt vorbeigelaufen im Juli 1949; es ist heiß; sie bietet ihm eine Limonade an, die beiden gehen ins Haus. Das, was dort geschieht, erzählt Enquist auf nicht allzu vielen Seiten in einer so dezenten und gleichzeitig im Wortsinn unverschämten Weise, in einem Bedeutungsraum zwischen Sexualität und Spiritualität. Er erzählt von zwei Menschen, die für einige wenige Augenblicke in ansonsten verschlossene Räume des jeweils anderen vordringen und diese Räume im Anschluss umgehend wieder verlassen, unwiderruflich und für immer. Eine Epiphanie: „So wie hier hatte sich bestimmt Jesus gefühlt, als Maria seine Füße mit wohlriechenden Ölen eingerieben und massiert hatte.“

Dreimal werden sich ihre Leben berühren, das des Erzählers und das der Frau auf dem astfreien Kiefernholzfußboden, zum letzten Mal auf ihrer Beerdigung. Die Nichte der Frau hat ihn, den berühmten Schriftsteller, per Brief informiert, so war es geplant, so war es gewünscht. Nachdem sie sich verabschiedet haben, die Nichte und er, überholt er sie mit dem Auto auf ihrem Fahrrad; „Ein Liebesroman!“, ruft sie, „Hupen Sie, wenn Sie’s versprechen!“ Er wird wohl gehupt haben. CHRISTOPH SCHRÖDER

Per Olov Enquist: „Das Buch der Gleichnisse“. Aus dem Schwedischen v. Wolfgang Butt. Hanser Verlag, München 2013, 224 S., 18,90 Euro