: Die seltsame Liebe ist mit und ohne Mauer seltsam
BEGEGNUNGEN Gregor Sander interessiert sich für das Besondere und Kapriziöse und lässt die populären Erzählmuster über die deutsche Wendezeit spielerisch hinter sich: „Was gewesen wäre“
VON HANS-JOST WEYANDT
Heiter und leicht beginnt dieser kleine Roman in einer sommerlichen Landschaft, wie sie vertraut ist aus Gregor Sanders großartigem Erzählband „Winterfisch“ (2011), an dessen spröden Charme er so nahtlos anzuknüpfen vermag, als seien die vergangenen drei Jahre nichts angesichts der Gerstenfelder unter hohem Himmel: Irgendwie nordisch ist diese Landschaft, irgendwie wortkarg, was nähere Auskünfte über ihre Verortung betrifft. Und gibt schließlich doch preis, dass sie sich der Erinnerung an die Umgebung von Neubrandenburg zu Anfang der achtziger Jahre öffnet.
Ein Mädchenpaar geht des Wegs und setzt mit seinen bunten Kleidern lustig hüpfende Akzente in die blasshelle Weite. Der Anblick könnte leicht zum sentimental verklärten Inbild einer bukolisch heilen Bauernstaat-Welt hochfrisiert werden, doch aufgebrezelt haben sich Astrid und Jana für eine Party am nahen See, und außer der giggelnden Vorfreude auf die Jungs vom Prenzlauer Berg, die mit ihnen feiern wollen, kommt ihnen nichts weiter in den Sinn. Das ist auch Jahrzehnte später noch so, wenn Astrid sich an das Sommerfest erinnert. Sie erzählt einfach, was gewesen ist, und ignoriert dabei völlig das schicksalwolkige „Was gewesen wäre“ des Titels, das den heiteren Tag nicht einzutrüben vermag.
Doch weil sie auf der Party auch Julius kennenlernt und weil aus dieser Begegnung eine komplizierte Beziehung entsteht und weil diese Beziehung die noch kompliziertere Handlung des Romans bestimmt, über dreißig Jahre, viele Grenzen und den Fall der Mauer hinweg bis zu einem Wiedersehen im Budapest der Gegenwart, weil das alles so ist und fast mustergültig eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte im Wandel der Zeiten ergibt, deshalb befremdet ihr Erinnern schon, völlig frei von Hader, Zweifel und Schwelgen und ohne jeden Möglichkeitssinn.
Andererseits, befremdlich ist die Astrid-Julius-Sache sowieso, auch in den Schilderungen des zweiten Erzählers, der Astrids Rückblicke aus personaler Sicht bis in die Gegenwart ergänzt: ein Erzählerduo, das in seiner nüchternen Sicht der Dinge weit besser harmoniert als dieses rätselhafte Liebespaar selbst. Im krassen Gegensatz zu seinem Umfeld erschließt sich dem Leser nie, was die beiden aneinander finden könnten. Und in geradezu haarsträubendem Widerspruch zu den Haupt- sind die Nebenfiguren nicht nur mit prägnantem Witz gezeichnete starke, witzige Charaktere, sie tun auch für das Paar viel mehr, als die beiden wohl je bereit wären zu tun.
Aus diesen Diskrepanzen gewinnt der im Ganzen souverän, fast cool erzählte, im Einzelnen glänzend verdichtete Roman seinen Humor. Dass die Liebe indes kein McGuffin ist und die Handlung nicht zur Farce gerät, in der viel Lärm um die nichts würdigen Mirakel der Liebe oder des Mauerfalls veranstaltet wird, hat mit dem Eigensinn dieses Autors zu tun. Sander vermag langlebige Irrtümer ebenso respektvoll zu begleiten wie überhaupt seine durch die Wendezeit irrenden Protagonisten, die zwar mit Verrat an die Stasi rechnen müssen, niemals jedoch an eine Pointe.
Selbst wenn am Ende der Konjunktiv des Titels gefährlich bündig mit einer lapidaren Gegenfrage beantwortet werden kann, droht die Geschichte nicht in einem Witz zu verkümmern. Dieses „Was sollte schon groß anders gewesen sein?“ lässt nur achselzuckend die populären Erzähl- und Erklärungsmuster deutscher Wendebefindlichkeiten hinter sich zurück, durch deren grobe Strukturen Sanders Erzählen spielend hindurchgeht. Dabei schert er sich so wenig um die Plausibilität von Zufällen, wie er das Besondere, Kapriziöse über den Kamm sozialpsychologischer Verallgemeinerungen schneidet. Dem jungen Paar in Neubrandenburg wäre die Aussicht auf Reisefreiheit und ein Wiedersehen in dreißig Jahren genauso abstrus vorgekommen wie im Rückblick die Annahme, die Wendezeit oder die Liebe hätten die Macht gehabt, ihr Leben aus den Bahnen zu werfen.
In „Winterfisch“ war Sander das Kunststück gelungen, ein großes Wort Alfred Anderschs auszutricksen. Indem er die Ostsee als Verbindung eines Kulturraums begreifbar machte, erschien sie nicht mehr als jene „graue Wand“, die sie seit Anderschs Roman „Sansibar“ war. Dasselbe ist Sander nun mit der Mauer gelungen, die, reichlich paradox, seit ihrem Fall vielen Autoren zu einem enormen erzählerischen Hindernis geworden ist, an dem zuletzt selbst Jenny Erpenbeck und Antje Ravic Strubel gescheitert sind. Ein Triumph ist diese Überwindung durch Unterwanderung aber vor allem deshalb, weil sie zeigt, dass die kleine Form, die Sander beherrscht, es immer noch mit den großen Fragen aufnehmen kann.
■ Gregor Sander: „Was gewesen wäre“. Wallstein, Göttingen 2014, 236 Seiten, 19,90 Euro