: Ein Requiem für El Chapo
MEXIKO Ist seine Verhaftung nur ein Fahndungserfolg? Oder hat Joaquín Guzmán, der mächtige Boss der Sinaloa-Kartells, auch die Gunst der USA und des mexikanischen Staates verloren?
VON WOLF-DIETER VOGEL
Es war ein Tag im Winter 2007. Wie aus dem Nichts tauchten in Canelas rund 200 Motorräder auf. Die Fahrer – schwarz gekleidet, bewaffnet mit Maschinenpistolen – verteilten sich auf die Ortseingänge des 11.000-Seelen-Städtchens in Nordmexiko. Kleinflugzeuge brachten Musiker, zwei Hubschrauber kontrollierten das Geschehen aus der Luft. Und dann kam er: „El Chapo“, der Kleine, wie ihn die Leute im „Goldenen Dreieck“ der Bundesstaaten Chihuahua, Durango und Sinaloa nennen. Die Kalaschnikow geschultert, stieg er aus dem Flugzeug, um dem örtlichen Schönheitswettbewerb beizuwohnen. Die Party ging die ganze Nacht, seine Geliebte wurde zur Dorfschönsten erklärt, und wenig später heiratete Joaquín Guzmán Loera, Mexikos mächtigster Drogenboss, die damals 18-jährige Emma Coronel.
Erst zwei Tage später erschienen 150 Soldaten. Da war es in Canelas längst wieder still und El Chapo über alle Berge. Es war nicht das erste Mal, dass der weltweit gesuchte Mafiaboss schneller war als alle Häscher. Voriges Wochenende nun ist der 56-Jährige den Fahndern ins Netz gegangen. Gemeinsam mit Emma Coronel und ihren Zwillingen wurde er in der Hafenstadt Mazatlán verhaftet. Kein Schuss fiel. Präsident Enrique Peña Nieto lobte die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, US-Justizminister Eric Holder sprach von einem „wegweisenden Erfolg“. Von monatelanger Überwachung war die Rede, von Drohneneinsätzen, einem entscheidenden abgehörten Anruf und Aussagen zuvor verhafteter Kartellmitglieder.
Politiker, Ermittler und Medien zeichnen nun das Bild eines Mannes, der 13 Jahre ein Phantom war. Aber nur, wenn man absichtlich weggesehen hat. Zwar haben die Beamten nach seiner Festnahme in Culiacán, der Narco-Hauptstadt an Mexikos Westküste, ein verworrenes Tunnelsystem im Untergrund entdeckt, teilweise klimatisiert. Doch unerreichbar war der Chef des Sinaloa-Kartells für die Behörden nicht. Seine Stippvisite in Canelas war nicht das einzige Mal, bei dem er sich in der Öffentlichkeit zeigte. Auch in Culicán, offenbar seinem Hauptquartier, war er vom Schutz von Kleinbauern und Taxifahrern, aber auch von Polizisten, Bürgermeistern und Gouverneuren abhängig. Es gab viele Mitwisser. Hätte die US-Antidrogenbehörde DEA Guzmán unbedingt ergreifen wollen, es wäre möglich gewesen.
Auch wenn nun eine ausgeklügelte Fahndungsstrategie zu seiner Festnahme geführt haben mag: Sicher ist dem Einsatz eine politische oder geheimdienstliche Entscheidung vorausgegangen. Denn offensichtlich pflegt das Sinaloa-Kartell seit Jahren Kontakte zu US-Beamten und zur mexikanischen Regierung. So erklärte der ehemalige DEA-Regionalleiter David Gaddis im Prozess gegen Vicente Zambada Niebla, den Sohn des zweiten Sinaloa-Chefs Ismael „El Mayo“ Zambada, er habe sich mit hochrangigen Vertretern des Kartells getroffen. Dokumente des Verfahrens, das in Chicago stattfindet, bestätigen mindestens 50 solcher Treffen zwischen 2000 und 2012. Die US-Regierung habe davon gewusst. Das Ziel sei gewesen, Informationen über rivalisierende Kartelle zu erhalten.
Dieses Vorgehen ist nicht ungewöhnlich. Schon Ende der 80er verbündeten sich Kolumbien und die USA mit dem gegenerischen Kali-Kartell, um den Drogenbaron Pablo Escobar zu bekämpfen. Ganz ähnlich, so vermuten Insider, sollte seit 2006, als der damalige Präsident Felipe Calderón den Drogen den Krieg erklärte, auch die mexikanische Mafia ausgespielt werden. Denn das Sinaloa-Kartell kam bei den Auseinandersetzungen immer glimpflich weg. „Nur 1,8 Prozent der Verhafteten stammen aus dieser Organisation, von den Verurteilten sind es sogar nur 0,9 Prozent“, erklärte 2011 der Sicherheitsexperte Edgardo Buscaglia.
Bereits Calderóns Vorgänger Vicente Fox stand unter dem Verdacht, Guzmán zu unterstützen. Er soll nachgeholfen haben, als „der Kleine“ 2001 aus dem Gefängnis ausbrach, sagt der ehemalige Staatsanwalt für organisiertes Verbrechen Samuel González Ruiz. El Chapo habe damals angeboten, die Konkurrenten vom Tijuana-Kartell ans Messer zu liefern.
Bei Phil Jordan, dem langjährigen DEA-Chef von El Paso, ist die Festnahme auf großes Unverständnis gestoßen. El Chapo habe Millionen in den Wahlkampf Peña Nietos investiert. Das bewiesen Akten des US-Geheimdienstes, so Jordan. „Irgend was ging da schief.“
Ob etwas und wenn was genau schiefgegangen ist, wird so schnell niemand beantworten. Leichtfertige Verschwörungstheorien taugen angesichts der komplexen Bande zwischen Geheimdiensten, Mafia, Wirtschaft und Politik wenig. Setzen die Dienste auf ein anderes Kartell? Ist Guzmán einem internen Machtkampf in seiner Organisation zum Opfer gefallen? Will Peña Nieto nach der Liberalisierung der Wirtschaft ein Zeichen setzen, dass Investitionen in Mexiko sicher sind?
Möglicherweise sei El Chapo garantiert worden, nicht in die USA ausgeliefert zu werden, mutmaßt Héctor Berréllez, ein weiterer Ex-DEA-Agent. Es ist ein denkbarer Kompromiss. 1991 hatte der Versuch, Escobar auszuliefern, in Kolumbien zu brutalen Kämpfen geführt. Auch Peña Nieto kann nicht daran gelegen sein, dass der Drogenkrieg über die Festnahme wieder aufflammt. Das mexikanische Gefängnis muss Guzmán ohnehin nur begrenzt fürchten. Vor seinem Ausbruch 2001 konnte er von dort aus acht Jahre lang seine Geschäfte ungestört führen. Zudem feierte er wilde Partys, lud Prostituierte ein und empfing seine beiden vorhergehenden Ehefrauen. Fast wie in Canelas.