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Archiv-Artikel

„Sie waren immer unter sich“

INTEGRATION Gülsen Sariergin führt in Bremerhaven ein Pflegeunternehmen. Ernst nehmen, sagt sie im Interview, kann sie Thilo Sarrazins Vorwürfe nicht

Gülsen Sariergin, 31

■ ist als Türkin in Bremerhaven geboren, deutsche Staatsangehörige seit sie 18 Jahre alt ist. Sie ist Inhaberin und Geschäftsführerin der Nordseepflege.

Foto: privat

taz: Frau Sariergin, Thilo Sarrazin sagt, dass wir durch Migranten wie Sie immer dümmer werden.

Gülsen Sariergin: Ich persönlich nehme das nicht ernst und fühle mich gar nicht angesprochen. Ich weiß auch nicht, ob er das wirklich so meint. Er muss doch auch sehen, dass er das nicht einfach verallgemeinern kann.

Als Inhaberin und Geschäftsführerin eines Unternehmens für ambulante Pflege und betreutes Wohnen mit 120 Mitarbeitern reagieren Sie sehr gelassen – sehen andere das auch so?

Ich habe ganz viele ausländische, nicht nur türkische Kollegen. Und auch die fühlen sich nicht angesprochen. Die gehen ihren Weg weiter, lesen oder kaufen das Buch gar nicht. Denn die Zeit, so einen Schwachsinn zu lesen, haben die nicht.

Trotzdem reißt die öffentliche Diskussion über das Buch nicht ab. Viele behaupten, dass das Thema Integration tabuisiert worden sei. Stimmt das?

Es wurde nicht unbedingt tabuisiert, aber Deutschland hat nicht vorausschauend genug gedacht. Die Gastarbeiter sollten kommen, arbeiten und irgendwann – wenn die Arbeit erledigt ist – wieder gehen. Erst im Nachhinein haben die Deutschen gemerkt, dass das gute und günstige Arbeitskräfte mit niedrigen sozialen Ansprüchen sind.

Den Migranten aber wird in der Diskussion vorgeworfen, dass sie sich zu wenig integriert haben.

Es blieb ihnen ja auch nichts anderes übrig! Hier in Bremerhaven zum Beispiel haben die türkischen Frauen im Fischereihafen gearbeitet. Alle Mitarbeiter waren Ausländer – Portugiesen, Spanier und Türken. Außer vielleicht einem deutschen Chef hatten die am Arbeitsplatz nur Ausländer um sich herum. Nach der Arbeit gingen sie dann in Wohngebiete, wo nur Ausländer wohnten. Die Migranten hatten einfach keine Chance. Sie waren immer unter sich.

Welche Folgen hatte das?

Im ersten Moment sind die Migranten natürlich froh, denn sie werden verstanden und die Kollegen sprechen die eigene Sprache. Das Problem ist aber, dass sie dann irgendwann, wenn sie zu einem Arzt gehen, der kein Türke ist und nur deutsch spricht, nicht mehr verstanden werden.

Ihre Familie ist in den Siebzigerjahren nach Deutschland gezogen und hat selbst schlechte Erfahrungen mit Deutschkursen gemacht, die ihnen angeboten wurden...

Man muss die Sprache den Migranten einfacher vermitteln können. Die akkuraten Deutschen möchten auch ihre Sprache akkurat rüberbringen. Und wenn die dann anfangen mit Nominativ, Akkusativ und Dativ – dann scheitert zum Beispiel meine Mutter. Es muss ein anderes Konzept geben. Und ob die Migranten dann wirklich der, die, das richtig nutzen – das machen doch die Deutschen auch nicht immer!INTERVIEW: HENDRIK HEUER