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Archiv-Artikel

„Die Psyche ist sehr erfinderisch“

Natascha Kampusch wurde in der Nähe von Wien acht Jahre in einem ausgebauten Kellerverlies gefangen gehalten. Die Gefangenschaft empfand sie wahrscheinlich irgendwann als normal, so der Traumatherapeut Georg Pieper

taz: Herr Pieper, Natascha Kampusch wurde in einem Dorf bei Wien von ihrem 10. bis zum 18. Lebensjahr von einem Entführer gefangen gehalten, bevor sie sich am Mittwoch befreien konnte. Was passiert in der Psyche eines solchen Opfers?

Georg Pieper: Wir können diesen Fall nicht mit normalen Entführungsfällen vergleichen, in denen Erwachsene ein paar Wochen entführt waren. Es geht um eine Zehnjährige, die damals noch wenig eigene Stärke hatte. Sie war in der wichtigen Zeit der Pubertät in Gefangenschaft. Die Gefangenschaft war für sie über Jahre hinweg ihre Realität, ja Normalität.

Sie muss doch realisiert haben, dass ihr Gewalt angetan worden ist. Sie hat sich befreit, indem sie in einem günstigen Moment entkam und einer Nachbarin sagte: Ich wurde entführt.

Diese Selbstbefreiung ist erstaunlich und stimmt hoffnungsvoll, dass sie eigene Stärken hat, um diese Entführung zu verarbeiten. Dennoch muss man sehen, dass ihre achtjährige Gefangenschaft für sie ab einem bestimmten Punkt eine Normalsituation war.

Sie war gefangen, sie hatte kein Tageslicht. Auch wenn sie Bücher und Videos hatte – sie konnte sich kaum bewegen, sie hatte keine sozialen Kontakte. Dass kann ein Mensch doch niemals als normal empfunden haben.

Es ist natürlich eine perverse Situation. Aber die Psyche muss in einer solchen Lage extremer Abhängigkeit Anpassungsleistungen erbringen. Man kann eine solche Situation nicht überleben, indem man sich dauernd vor Augen hält: Ich bin hier in einer schrecklichen Lage, bin gefangen und habe keine sozialen Kontakte, kein Tageslicht. Man muss sich innerlich arrangieren in solch einer Situation. Als zehnjähriges Kind kann man solche Anpassungsleistungen zudem schneller entwickeln.

Wie kann man sich das vorstellen?

Man muss hier ein bisschen spekulieren, weil es bislang keine vergleichbaren Fälle gibt. Vermutlich ist es so, dass die Vergangenheit dann ein Stück weit weggepackt wird. Es ist vielleicht vergleichbar mit jemanden, der lange Zeit im Gefängnis ist. Das Gefängnisleben ist dann die Realität, das Draußen spielt gar nicht mehr so eine Rolle.

Kann es sein, dass das Mädchen nicht die erstmögliche Fluchtmöglichkeit genutzt hat?

Das ist denkbar. Das kennen wir auch aus anderen Fällen bei misshandelten Menschen, dass die emotionale Bindung zum Täter eng geworden ist. Es gibt ja den Ausdruck: „Identifikation mit dem Angreifer“. Wenn man, wie dieses Mädchen, spürt, dass es keinen Sinn hat, sich zu wehren, weil er viel stärker und mächtiger ist – dann gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich gehe kaputt – oder ich mache gemeinsame Sache mit ihm und mache das Beste daraus. Die Identifikation mit dem Täter ist die einzig mögliche Überlebensstrategie.

Es heißt, das Mädchen sei wahrscheinlich sexuell missbraucht worden, würde dies aber im Nachhinein gar nicht so empfinden.

Die Polizistin, die als Erstes mit dem Mädchen gesprochen hat, hat im Österreichischen Fernsehen erzählt, dass der Täter das Mädchen wohl nicht offen gequält hat. Deswegen kann es sein, dass sie den Missbrauch gar nicht als solchen empfunden hat, sondern das so wahrnahm, als wolle der Täter nur irgendwie lieb zu ihr sein.

Was geht in so einem Täter vor?

Er hat mit sehr viel krimineller Energie einen Menschen in völlige Abhängigkeit gebracht. Er hat auf dem Weg der Ausübung von völliger Macht versucht, Nähe herzustellen. Er hat sich so auch sexuelles Erleben verschafft. Er hatte aber offenbar auch ein Unrechtsbewusstsein, sonst hätte er nicht gesagt: „Lebendig kriegen die mich nicht“, bevor er sich vor den Zug warf.

Wie sieht die Zukunft eines solchen Opfers aus?

Die junge Frau ist nicht chancenlos. Sie ist ja offenbar sehr anpassungsfähig gewesen. Die Psyche ist auch sehr erfinderisch. Sie muss therapeutische Hilfe bekommen, sie braucht eine enge Beziehung zu einem Menschen, wahrscheinlich ihren Eltern.

Welche Gefühle wird sie gegenüber dem Entführer entwickeln?

Der Entführer hat sich das Leben genommen, das macht alles schwieriger. Sie wird ihm gegenüber wahrscheinlich heftige Hass- und vielleicht auch Schuldgefühle entwickeln, und sie wird auf eine bestimmte Art auch einen Verlust empfinden. Sie wird ambivalente Gefühle haben. Das wird therapeutisch schwierig.

INTERVIEW: BARBARA DRIBBUSCH