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Archiv-Artikel

„Den Parteien fehlt die Autorität“

Christoph Bruch

„Ich glaube, die Menschen sind schon in der Lage, über Egoismen hinauszudenken. Die Politik müsste sie eben über die Lasten aufklären, die dadurch an anderer Stelle getragen werden müssen“

„Jeder hat das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“ – dieser Satz im Grundgesetz kann im Wahlkampf zur Qual werden: Die Parteien bombardieren die BerlinerInnen mit extrem verkürzten Werbebotschaften. Christoph Bruch kämpft seit sechs Jahren als Mitglied des Bundesvorstandes der Humanistischen Union dafür, dass BürgerInnen mehr Einblick in die Kulissen des Politiktheaters bekommen. Bevor er ehrenamtlich bei der Bürgerrechtsorganisation einstieg, schrieb der 43 Jahre alte Politologe seine Dissertation über das Informationsfreiheitsgesetz der USA. Im Prinzip beschäftigt sich Bruch, der seit 20 Jahren in Berlin lebt, vor allem mit einer Frage: Ist eine andere Politik möglich?

Interview ULRICH SCHULTE

taz: Herr Bruch, wenn Sie sich ein Wahlplakat wünschen dürften – wie sähe das aus?

Christoph Bruch: Du liebe Güte. Ich fürchte, für die Gestaltung von Plakaten bin ich ein zu seriöser Typ. Das Medium ist derart ungeeignet, eine sinnvolle Botschaft zu transportieren, dass mir mein Gewissen Probleme bereiten würde.

Politiker haben solche Skrupel nicht und werben mit gnadenlos schlichten Sprüchen. Sind Ihnen Ihre Volksvertreter manchmal peinlich?

Nein. Die Politiker befinden sich in einer schwierigen Situation. Sie sind ja gezwungen, ein Plakat herzustellen. Man kann das oft banale Ergebnis kritisieren, aber den einzigen, wahren Satz, der eine ganze politische Programmatik ausdrückt, gibt es nun mal nicht. Bliebe nur der Verzicht auf Slogans – und dann würden wieder welche meckern, dass die Parteien nur Köpfe präsentieren.

Wie bewerten Sie den bisherigen Wahlkampf in Berlin?

Ich gestehe: Im Detail verfolge ich die Anstrengungen der Parteien gar nicht. Ich weiß, was ich wähle, und ich weiß auch, dass sie mir nichts Neues sagen. Es ist – bis auf minimale Variationsmöglichkeiten – klar, wie die neue Regierung aussehen wird. Und die wichtigsten Entscheidungen stehen fest. Nur ein Beispiel: Weder SPD, PDS noch Grüne werden den Kurs der Privatisierungen aufgeben.

Dennoch beeinflusst der Wahlkampf die Meinungsbildung. Rund ein Drittel der Wähler entschied bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg erst in der letzten Woche vor der Wahl, bei wem sie ihr Kreuz machen.

Das ist eine hochproblematische Entwicklung. Wenn Menschen sich aus dem Bauch heraus für die eine oder die andere Partei entscheiden, unterstützen sie damit nicht unbedingt die Interessen, die sie wichtig finden. Wenn ich einen bestimmten SPD-Flügel stärken will, muss ich ja eher links oder rechts von der SPD wählen.

Aber beeinflusst solch Taktiererei den Kurs einer Partei? Die wichtigen Entscheidungen treffen in der Organisation wenige.

Deswegen brauchen wir andere Wege, wie die direkte Demokratie. Mit Volksbegehren lassen sich Mehrheiten für Themen identifizieren und durchdrücken. Und grundsätzlich gilt: Wer etwas bewegen will, muss sich in oder außerhalb der Parteien engagieren. Vom Kreuzchen allein kann die Demokratie nicht leben.

Alle Politiker tun im Moment so, als hätten sie den Stein der Weisen gefunden. Wirkt Politik deshalb auf viele Menschen unglaubwürdig?

Politik wird dann unglaubwürdig, wenn sie es nicht schafft, ihre eigenen Handlungen in einem stimmigen Weltbild sinnvoll zu verorten. Die Bundesregierung gibt als ihr zentrales Anliegen aus, Arbeitsplätze zu schaffen. Tatsächlich fehlt ihr jede Möglichkeit, dies umzusetzen. Was tut sie stattdessen? Sie konstruiert ein weltfremdes Weltbild, in dem sie als handlungsfähig erscheint. Und verbreitet, man müsse nur die Lohnnebenkosten senken, schon entstünden Jobs.

Schaffen es die Landesparteien, ein stimmiges Weltbild zu entwerfen?

Nein. Die Berliner merken, dass sich ihre Lage permanent verschlechtert. Wenn die Parteien die Autorität besäßen, die zu besitzen sie vorgeben, wäre das nicht der Fall.

Wie könnten Politiker das Dilemma lösen?

Sie müssen sich von Lebenslügen verabschieden. Vor 20 Jahren hat man uns – völlig zu Recht – erzählt, die EU sei als Zusammenschluss wichtig und nötig, um die Macht von Konzernen über nationale Grenzen hinweg brechen zu können. Inzwischen predigen Politiker das Gegenteil, nämlich den Wettbewerb zwischen Staaten und Kommunen.

Und berauben sich so selbst ihrer Handlungsmöglichkeiten.

Richtig. Max Weber, der Mitbegründer der deutschen Soziologe, hat schon vor hundert Jahren beschrieben, was es bedeutet, wenn Unternehmen in der Lage sind, Volkswirtschaften gegeneinander auszuspielen. Die Konzerne können Staaten schlicht erpressen. Die Diskussionen darüber, ob sich Konzerne durch Steuersenkungen im Land halten lassen, sind doch Alibipolitik.

Warum unternimmt die Politik so wenig gegen diese Entmachtung?

Es besteht große Angst davor, Entscheidungen zu treffen, die als Eingriff in die Eigentumsordnung gebrandmarkt werden könnten. Etwa die Diskussion um die Einführung von Mindestlöhnen.

Wie sonst sollte der Staat vorgehen?

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Wir müssen uns trauen, politische Ziele zu formulieren – und die Wirtschaft dazu zwingen, daran mitzuarbeiten. Die EU könnte entscheiden, dass sich Unternehmen an Grundsätze zu halten haben, seien es Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards oder Preisgestaltung – und sie müsste Verstöße konsequent ahnden. Wir müssen wegkommen von einer Wirtschaftspolitik, die es Unternehmen ermöglicht, sich politischer, sprich: gesellschaftlicher Einflussnahme, zu entziehen.

Wenn schon die EU nichts tut – was kann Landespolitik dann noch entscheiden?

Das wichtigste rot-rote Projekt war, die Ausgaben zu senken. Das haben sie geschafft. Allerdings mit den Mitteln, die sie anderswo anprangern. Die Regierung spart, indem sie einst staatliche Aufgaben aufgibt, also etwa Wohnungen privatisiert oder BVG-Aufgaben an Privatfirmen auslagert.

Wie hat sich Rot-Rot für Bürgerrechte eingesetzt, was ja wenig Geld kostet?

Der Senat hat das Informationsfreiheitsgesetz, das Bürgern die Einsicht in Verwaltungsakten garantiert, verschlechtert. Wowereit persönlich steht auch eher für Geheimniskrämerei. Er hat die Herausgabe seines Terminkalenders an einen Journalisten verweigert. In der Innenpolitik und beim Strafvollzug ist Berlin zumindest nicht negativ aufgefallen. Beim Thema Basisdemokratie, also Bürgerbegehren und -entscheiden, hat der jetzige Senat allerdings einiges erreicht – in den Bezirken und bald auch im Land.

Warum sind wirksame Volksbegehren so wichtig? Sie interessieren doch nur eine klitzekleine Minderheit.

Die Politik traut sich an manche Sachen nicht heran – aus Angst vor Lobbygruppen. Der Senat behauptet seit Jahrzehnten, er wolle einen größeren Teil des Verkehrs in Bus und Bahn umleiten. Das hat er nie ernst gemeint. Wenn sich jetzt ein Häuflein Aufrechter findet, das Parkgebühren kräftig verteuern will, kann sich die Bevölkerung dazu verhalten. Das Volksbegehren hebelt den Schweigemechanismus in der Politik aus. Und es schafft neue Mehrheiten.

Inwiefern?

Ich kann ja zum Beispiel die Schulpolitik der CDU gut finden – würde die Union aber aus verschiedensten Gründen nie wählen. Durch ein Volksbegehren können sich Bürger themenbezogen und konkret in Politik einmischen.

Volksbegehren können umgekehrt unangenehme, aber nötige Entscheidungen verhindern.

Klar. Niemand will zum Beispiel ein Atomendlager vor der Haustür haben. Aber da sollte gelten: Wenn sich nirgends eine Mehrheit findet, dann machen wir es nicht. Anders gesagt: Wenn keiner strahlenden Müll haben will, sollte man vielleicht keine Atomkraftwerke bauen.

Und wenn jeder ein luxuriös ausgestattetes Schwimmbad im Kiez haben will, muss der Senat eben zahlen?

Ich glaube, die Menschen sind schon in der Lage, über Egoismen hinauszudenken. Die Politik müsste sie eben über die Lasten aufklären, die dadurch an anderer Stelle getragen werden müssen.

Der Terrorismus rückt – zumindest gefühlt – näher. Ärgern Sie die lautstarken Forderungen nach mehr Überwachungsmaßnahmen?

Ich kann sie verstehen. Aber die Politik muss genau überlegen, wie sie deren Wirkung beschränkt oder, wenn das Beben vorbei ist, den Pegel zurückfährt. Leider warte ich darauf vergeblich. Das Gegenteil findet statt: Bei der Einführung des Mautsystems für Autobahnen war Konsens, dies nicht für Überwachung zu nutzen. Jetzt diskutiert man genau das.

Liegt das nicht auch an einem gesellschaftlichen Stimmungswandel? Selbst der Berliner Datenschutzbeauftragte hat sich mit Kameras in Bahnhöfen angefreundet.

Genau diese Stimmung leitet jedoch unheilvolle Entwicklungen ein. Ginge es nach Innensenator Ehrhart Körting (SPD), dürfte die BVG ihre Bahnhöfe, ausgehend von ihrem Hausrecht, filmen und die Bilder speichern. Wenn die BVG das darf, muss es auch allen anderen erlaubt sein. Wohnungsbaugesellschaften könnten etwa eine Komplettüberwachung gegen Graffiti starten.

Was wäre daran so schlimm?

Im nächsten Schritt wird es heißen, die Aufzeichnungen müssen gewissen Standards genügen – und die Polizei bekommt Zugriff auf das Material. Schon bald wird es möglich sein, die Bänder automatisiert nach Gesichtern auszuwerten. Will heißen: Wir schaffen jetzt eine Überwachungsinfrastruktur, die in Zukunft – unabhängig von irgendwelchen Vorfällen – für ganz andere Dinge genutzt werden kann.

Das ist eine sehr abstrakte Beweisführung angesichts der Angst der Menschen.

Ich halte mich an Murphy’s Law: Was missbraucht werden kann, wird missbraucht. Aber solche Argumente bringen mich sofort in die Defensive. Weil ich ja einer demokratischen Regierung unterstelle, sie könne sich in eine autoritäre Regierung verwandeln – auch wenn nichts darauf hindeutet.

Sie setzen sich bei der Humanistischen Union für Informationsrechte des Einzelnen ein. Wie informieren Sie sich persönlich?

Ich lese Zeitungen und Magazine. Einige gute Freunde kandidieren für Parteien, über die bekomme ich auch einiges mit. Das Fernsehen nutze ich fast überhaupt nicht.

Ist das eine bewusste Entscheidung?

Nein, eigentlich schaue ich sehr gern fern. Wir haben ein sehr typisches Familienproblem: Unsere Kinder müssen gegen acht, halb neun Uhr ins Bett, das nimmt einige Zeit in Anspruch. Die „Tagesschau“ und der Abendkrimi fallen automatisch aus. Und für die Spätnachrichten muss ich zu früh aufstehen.

Das hat aber auch den charmanten Nebeneffekt, dass sie Werbespots der Parteien nicht mitbekommen.

Mit Regionalfernsehen können Sie mich sowieso jagen. „Abendschau“? Bitte nicht. Aber das ist eben mein persönlicher Geschmack, die Redakteure müssen ja ihr Publikum bedienen. Aber wo wir gerade noch mal beim Wahlkampf sind: Mir ist doch noch eine Plakatidee eingefallen.

Und die wäre?

Was mich wirklich sehr geärgert hat, war die SPD-Idee, das Gehalt ihres Senatskanzleichefs um fast 2.400 Euro zu erhöhen. Das würde ich auf Plakaten – eng mit kleiner Schrift bedruckt – als Realitätsverlust thematisieren.