Der intellektuelle Doppelagent

Kritik der Kritik (7): Als Freiberufler muss man ständig abwägen, auf wessen Seite man sich schlägt. Dann gilt es im kulturellen Feld die Eventmanager zu ernüchtern oder den Künstler ein wenig in seinem Sendungsbewusstsein zu bremsen. Eine Anleitung

■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es damit in der Kultur? Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Konsumindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks

von WOLFGANG ULLRICH

Ich bin Opportunist. Ein Blick auf meinen Schreibtisch oder in meinen Kalender ließe kaum eine andere Diagnose zu. An einem Tag schreibe ich das Vorwort für einen Katalog, in dem eine Bank stolz ihre Kunstsammlung präsentiert, und am nächsten Tag konzipiere ich einen kleinen Aufsatz für eine kunstwissenschaftliche Zeitschrift, in dem ich mich kritisch über Kunstsammler und ihr Verständnis von Besitz äußere. An einem Vormittag besuche ich einen Künstler in seinem Atelier, der sich und seine Familie mit Nebenjobs über Wasser halten muss, und am Abend treffe ich mich mit zwei Marketingmanagern eines Global Player, die meine Meinung zu einer spektakulären, da illegalen Sponsoringkampagne hören wollen. Und wenn ich jetzt nicht gerade diesen Text für die taz zu verfassen hätte, dann recherchierte ich für einen Vortrag über den kulturkritischen Topos der Schnelllebigkeit, den ich demnächst vor Führungskräften eines Verlagshauses halten soll.

Ich bin Freelancer. Das heißt zwar nicht, dass ich alles mache, was man mir anbietet, doch genügt es auch so, um mit sehr unterschiedlichen Auftraggebern, Kunden und Honorarniveaus zu tun zu haben, ja, um mit konträren Lebenseinstellungen und unvereinbaren politischen Überzeugungen konfrontiert zu werden. Wem aber gebe ich nun Recht? Jeder erwartet – setzt gar als selbstverständlich voraus –, dass ich auf seiner Seite stehe; sonst würde er keinen Rat, Text oder Vortrag von mir wollen. Wie aber kann ich einerseits dem Künstler als aufmunternder Gesprächspartner dienen, der, verbittert über die Aufmerksamkeitsregeln des Kunstbetriebs, reihenweise marktkritische, gegen die gesamte Eventkultur gerichtete Bemerkungen vom Stapel lässt, und andererseits mit den Marketingmanagern gemeinsame Sache machen, für die Kultur nur insofern zählt, als sie Event sein kann, und die bei allem, was sie tun, bloß daran denken, wie viel Aufmerksamkeit es erzeugen wird? Selbst wenn ich beiden nicht einfach zustimme, sondern den Künstler etwa daran erinnere, dass der Markt nur einen von mehreren Anhaltspunkten für die künstlerische Qualität liefert, und die Manager davor warne, zu viel Hoffnung auf die Öffentlichkeitswirkung eines noch so ungewöhnlichen Kultursponsoring zu setzen, muss ich doch zumindest die Prämissen meines jeweiligen Gegenübers teilen. Andernfalls ist ein konstruktiver Dialog von vornherein ausgeschlossen.

Ich bin Rortyaner. Aus Richard Rortys Buch „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ von 1989 (über das ich 1991 meine Magisterarbeit schrieb) habe ich gelernt, dass sich ein heutiger Intellektueller dadurch definieren kann, seine Überzeugungen immer gleich selbst in Zweifel zu ziehen und zu relativieren, da ihn andere Überzeugungen ebenso beeindrucken. Außerdem hat er erkannt, wie leicht es ist, beinahe jede Ansicht als richtig oder falsch erscheinen zu lassen – jeweils nur abhängig davon, in welchen Zusammenhang man sie stellt. Rorty titulierte einen solchen Intellektuellen als Ironiker: als jemanden, der sich dadurch auszeichnet, mit möglichst vielen verschiedenen Positionen und Mentalitäten klarzukommen – und so in sich zu verbinden, was sonst unvereinbar scheint. Natürlich – das schreibt Rorty nicht – kann das auch zum Leistungssport werden, und ich habe mich gelegentlich schon dabei ertappt, bewusst starke Kontraste zu suchen und ein Angebot vor allem deshalb anzunehmen, weil es die Vielseitigkeit meines Portfolios erhöht. Dann muss man sich aber auch fragen, ob man Überzeugungen nicht nur wie Statussymbole behandelt und mit ihnen bloß gastronomisch umgeht: Heute hätte ich Lust auf ein linkes Menü, morgen steht mir der Sinn eher nach einem wertkonservativen Süppchen, oder ich bestelle mir zumindest einen liberalen Vorspeisenteller. Und warum war ich bisher eigentlich noch nie beim Katholiken um die Ecke zum Essen?

Ich bin Doppelagent. Deshalb könnte ich ein schlechtes Gewissen haben – gerade deshalb habe ich aber keines. Denn ich vermag mir einzureden, dass jeder meiner Adressaten davon profitiert, wenn ich zugleich alternative Positionen kenne und mich sogar in sie hineinversetzen kann. Auf diese Weise will ich zwar nie jemanden von einer anderen Meinung überzeugen, versuche aber, zaghaft Übertreibungen zu korrigieren, die den Blick für anderes verstellen. Ich kann eine Einseitigkeit oder eine Fixierung ansprechen, ohne damit beim anderen den Verdacht zu wecken, ihn misszuverstehen oder gar zu verraten. Weder besteht die Tätigkeit eines Intellektuellen im Sinne Rortys also darin, pauschal allem zuzustimmen, noch sieht er sein Ziel darin, Kompromisse zu finden und den gemeinsamen Nenner verschiedener Milieus – so etwas wie eine Metasprache – zu entdecken. Seine Arbeit lässt sich dafür als ein Moderieren, auch als ein Depotenzieren beschreiben. Indem er überall etwas Skepsis walten lässt und da ansetzt, wo seine Gesprächspartner einer Sache besonders viel Bedeutsamkeit oder gar absolute Geltung zusprechen, will er ihnen die Chance geben, einen Standpunkt nochmals aus leicht – wirklich nur leicht! – anderer Perspektive zu überdenken.

Ich bin Spielverderber. Immerhin habe ich Spaß daran, etwas Luft aus aufgeblasenen Bedeutungsballons herauszulassen und Dramatisierungsgesten abzuschwächen. Doch geschieht das nicht aus Lust an Destruktion, sondern in der Hoffnung, dass neue intellektuelle Freiräume entstehen, wenn man die Überschätzungen, Überforderungen und Überhöhungen abbaut, die auf so vielen Feldern in Kultur und Gesellschaft anzutreffen sind. Statt fundamentale Kritik zu üben und sendungsbewusst klare Alternativen vorzuschlagen, bemüht man sich als Geisteswissenschaftler dann lieber um Lockerungsübungen. Wer einmal darauf zu achten beginnt, wie viele Menschen sich verspannen oder einschüchtern lassen, weil sie zu sehr an etwas glauben, wird bald dazu neigen, starke Überzeugungen als Belastungen zu interpretieren. So ignorieren ziemlich viele ihre wahren Begabungen oder setzen ihr Vermögen aufs Spiel, weil sie alles Heil von der Kunst, einer Liebesbeziehung oder einem fremden Land erwarten. Andere glauben an die Sinnverheißungen cooler Marken – oder sind sich im Gegenteil ganz sicher, dass die Konsumwelt den Menschen banalisiert und seinen niederen Instinkten ausliefert. In all diesen – und zahlreichen weiteren Fällen – bleibt die Sachlichkeit auf der Stecke. Aber auch sonst wird, vor allem durch die Medien, in vieles viel zu viel Bedeutung gepumpt. Genau deshalb hat Kritik heute primär als Ernüchterung stattzufinden.

Ich bin Pyrrhoniker. Die antike Skeptikerschule des Pyrrho verfolgte bereits dasselbe Ziel wie ein Intellektueller im Sinne Rortys. Auch ihre Vertreter agierten nämlich aus der Einsicht, dass Überzeugungen immer zu entkräften sind oder sich genauso als unsinnig darstellen lassen. Und auch sie waren der Auffassung, dass man freier und glücklicher leben kann, wenn man sich nicht auf etwas versteift und es mit Ansprüchen überlädt. Sie setzten sogar alles daran, die Menschen von ihren festen Positionen zu befreien. Dazu präsentierten sie ihnen andere Positionen als genauso plausibel, ja entwickelten eigene Techniken diskursiver Deeskalation. Sie forcierten also eine Erfahrung, die heute jeder macht, der mit vielen verschiedenen Menschen zugleich zu tun hat und dabei, wie ein freiberuflicher Geisteswissenschaftler, auf ihre jeweiligen Ansichten einzugehen hat. Statt es als lästiges Patt zu empfinden, wenn man sich in konträre Weltanschauungen gleichermaßen einfinden und sowohl die Haltung des marktfeindlichen Künstlers wie auch die des marktgläubigen Managers nachvollziehen kann, geht man dann eben lieber auf Distanz zu allen festen Überzeugungen. Man gesteht ihnen keine so große Bedeutung zu, wie sie üblicherweise haben, und übt sich vielmehr in einer Art von Überfrachtungsverzicht. Ich bin dankbar dafür, Opportunist sein zu dürfen, da ich auf diese Weise immer wieder vor eigenen Übertreibungen geschützt und zudem auf Bereiche aufmerksam werde, die der Kritik im Sinne einer Moderierung bedürfen.