: Kein Äffchen im Zoo
Das Entführungsopfer Natascha Kampusch (18) hat eine Erklärung veröffentlicht, in der sie fordert, trotz des erlittenen Schwerstverbrechens in ihrer Privatsphäre respektiert zu werden. Mit Recht
VON BARBARA DRIBBUSCH
Selten hat ein Verbrechen die Öffentlichkeit so aufgewühlt wie der Entführungsfall Natascha Kampusch. Nach acht Jahren Gefangenschaft in einem ausgebauten Kellerverlies in der Nähe von Wien konnte sich die junge Frau, in diesem Jahr gerade volljährig geworden, am vergangenen Mittwoch selbst befreien.
Mit einer persönlichen Erklärung, die ein Psychiater gestern verlas (siehe Kasten), bittet Kampusch um mehr Distanz der Medien. Grund genug, zu versuchen, Fakten und Spekulationen zu trennen.
Ein Anlass für Spekulation war die Frage, inwieweit die mit zehn Jahren entführte Kampusch, von den Medien nur mit ihrem Vornamen „Natascha“ genannt, innerlich von ihrem Entführer abhängig wurde. Sie habe ihren Peiniger „mein Gebieter“ nennen müssen, hatte es in den ersten Meldungen geheißen. „Übrigens nannte ich ihn nie Gebieter, obwohl er das wollte.“ erklärte Kampusch.
Flucht in Panik
Kampusch machte nach eigenen Angaben Hausarbeiten und kochte. Inwieweit das Haus des Entführers so stark gesichert war, dass sie gar nicht früher hätte entkommen können, oder inwieweit sie auch schon früher Fluchtmöglichkeiten gehabt hätte, ist noch nicht eindeutig belegt. Klar aber ist: Am Ende befreite sie sich selbst, indem sie aus der geöffneten Garage entkam und in Panik zu einer Nachbarin rannte.
„Wir waren gleich stark“, sagt sie heute über ihren Entführer. Er habe sie „symbolisch gesprochen auf Händen getragen und mit Füßen getreten“. Das Entführungsopfer nahm an ihrem Peiniger somit Ambivalenzen wahr, wie es sonst nur forensische Psychiater in der Täterforschung tun – das spricht für ihre seelische Autonomie.
Ihre Zeit der Gefangenschaft deutet Kampusch heute laut ihrer Erklärung so, dass sie immerhin nicht zu rauchen angefangen oder falsche Freunde gehabt habe. Solche Umdeutungen einer ausweglosen Situation in etwas Positives machen auch schwer Erkrankte. Kampusch verfügt offenbar über gute Selbstschutzmechanismen.
In der Frage des sexuellen Missbrauchs bemüht sich Kampusch um Abgrenzung und will nicht beforscht werden wie ein Äffchen im Zoo. Eine junge Beamtin aus der Provinz, auf die Kampusch nach ihrer Befreiung traf, hatte nach der ersten Vernehmung geäußert, Kampusch sei wohl missbraucht worden, habe dies aber offenbar nicht so empfunden. Doch Kampusch, die laut ihren BetreuerInnen an ihrem jetzigen Aufenthaltsort die Berichterstattung in den Medien aufmerksam verfolgt, tritt journalistischen und psychiatrischen Spekulationen über erlittene sexuelle Gewalt und ihr inneres Erleben derselben inzwischen entschlossen entgegen. Die „intimen Fragen“ gehen „niemanden etwas an“, ließ sie in ihrer Erklärung verlesen. Sie werde jeden Schritt der Berichterstattung darüber ahnden.
Die Boulevardmedien sahen es als Zeichen ihrer Traumatisierung, dass Kampusch ihre Eltern derzeit nicht treffen will, mit denen sie nach ihrer Befreiung ein kurzes Wiedersehen hatte. Vielleicht ist aber auch dies ein Zeichen von gesundem Selbstschutz. Acht Jahre musste sie ganz allein überleben. Die emotionalisierten Eltern ausgerechnet jetzt zu ertragen, ist vielleicht eine Überforderung.
Der Vater von Kampusch tritt heute Abend im Fernsehen in der Talkshow Arabella Kiesbauers beim Sender „24“ auf. Kampusch soll bereits viel Geld für das erste Exklusiv-Interview geboten worden sein.
Die BetreuerInnen schafften es bisher, das Entführungsopfer auf dessen Wunsch abzuschirmen. Dass die Frau nicht nur ihre Gefangenschaft überstand, sondern jetzt der Öffentlichkeit gegenüber ihre eigene Wahrheit vertreten muss, um nicht vom Subjekt zum Objekt zu werden – das sagt nicht nur etwas aus über die Überlebenskraft der Psyche, sondern auch über unsere Mediengesellschaft.