: Relativität inklusive Zunge-Rausstrecken
OPER Hoher Besuch: Der selten gespielte Musiktheater-Klassiker „Einstein on the Beach“ von Philip Glass und Robert Wilson ist in rekonstruierter Fassung im Haus der Berliner Festspiele zu erleben
VON TIM CASPAR BOEHME
Was passiert eigentlich mit den Werken von Philip Glass, wenn es ihn einmal nicht mehr gibt? Sobald Komponisten sterben, gerät ihr Werk zunächst erfahrungsgemäß in Vergessenheit, bis es dann wiederbelebt wird – oder eben nicht. Beim Minimalisten Glass muss man allerdings zusätzlich fragen: Was passiert, wenn der Dirigent seines Ensembles, Michael Riesman, einmal nicht mehr ist? Wird dann überhaupt noch jemand diese Stücke so, wie von ihrem Schöpfer gedacht, spielen können?
Viele der Kompositionen von Glass wurden bisher sämtlich von Riesman dirigiert. Dazu gehört auch „Einstein on the Beach“, Glass’ erste Oper von 1976, die er gemeinsam mit dem Regisseur Robert Wilson erarbeitete. Bevor es also zum Äußersten kommt, hat man dieser Tage Gelegenheit, das unter anderem wegen seiner monumentalen Dimensionen selten inszenierte Musiktheaterstück, das zu den Hauptwerken von Glass und Wilson zählt, in Berlin zu erleben – selbstverständlich mit Riesman am Pult.
Seit 2012 gibt es eine rekonstruierte Fassung, die rund um die Welt aufgeführt wurde und zum Abschluss ihrer Tour jetzt im Haus der Berliner Festspiele zu Gast ist.
Zur Premiere am Montag blieb die überwiegende Mehrheit des Publikums im ausverkauften Haus, die vollen vier Stunden lang. Wohlgemerkt ohne Pause – es geht schließlich um die Relativität der Zeit –, man war jedoch ausdrücklich aufgefordert, die Vorstellung nach eigenem Wunsch zu verlassen und sich wieder hinzuzugesellen. Eine individualisierte Pause gewissermaßen, bei der eine Schambarriere zu überwinden war: Soll ich wirklich aufstehen und die 20 Leute neben mir bitten, dasselbe zu tun, um mich kurz durchzulassen? Wie sich herausstellte, lag die Hemmschwelle im Publikum nicht übermäßig hoch.
„Einstein on the Beach“ war seinerzeit ein radikales Werk, ohne Handlung, ohne Protagonisten – bloß die Violinistin des Ensembles sitzt gelegentlich mit grauer Wuschelhaarperücke auf der Bühne und gibt sich so als Einstein-Imitatorin zu erkennen, Zunge-Rausstrecken inklusive. Ansonsten spielt der Physiker bei Glass und Wilson eher strukturell, wie man früher sagte, eine Rolle: Die farbig modellierte Leere, mit der Wilson seine Räume ausgestaltet, und die kaum vom Fleck kommen wollenden Repetitionen in der Musik von Glass, die zwischen den drei Grundformen rasender Stillstand, fließender Stillstand und Platte-mit-Sprung-Stillstand zu variieren scheint, vermitteln einem vielleicht nicht direkt, was unter Vierdimensionalität zu verstehen ist, veranschaulichen die Idee der Relativität von Raum und Zeit dafür aber ziemlich eindrucksvoll, selbst wenn das Musiktheater inzwischen mit Formensprachen wie diesen einigermaßen vertraut ist.
Bei „Einstein“ beeindruckt nach wie vor die Wucht einzelner Bilder, etwa die an Fritz Langs Film „Metropolis“ angelehnte maschinenartige Konstruktion, in der Darsteller in Arbeitskleidung mit dem Rücken zum Publikum stehend an riesigen Reglern (hier aus Licht) hin und her schalten, während sich vor ihnen zwei weitere Darsteller in Fahrstühlen bewegen, einer vertikal, der andere horizontal. Oder der gleißend weiße Balken, der auf völlig dunkler Bühne liegt und von der Waagerechte fast unmerklich in die Senkrechte gehoben wird, um am Ende himmelwärts zu entschwinden.
Auch die Anforderungen an das Ensemble sind beachtlich: manche Tänzer müssen ruckartig eckige Bewegungen vollführen, die die Strapazen strammsten Militärdrills in den Schatten stellen – minutenlanges Den-Arm-hochgestreckt-Halten gehört ebenfalls dazu. Die Sänger haben kieferstarregefährliche Hochgeschwindigkeitswortfolgen hervorzubringen, und die Musiker absolvieren an ihren Instrumenten irrwitzigste Marathonläufe.
Ein Relativitätsgefühl mag sich zwar nicht durchgehend einstellen, die eine oder andere Stelle hat Längen. Am Ende überwiegen die starken Momente, wie der A-cappella-Chor, bei dem die mitunter schematische Tonsprache von Philip Glass fast choralartige Qualitäten bekommt – oder die kreisenden Choreografien von Lucinda Childs, in denen sich Bewegung, Bild und Musik perfekt ineinanderfügen. In dieser Gestalt wird das Stück wohl nicht wieder zu sehen sein.
■ Weitere Aufführungen: 5., 6., 7. März, 18.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele