Sondermülldeponie Ostsee

Auf dem Grund des Binnenmeeres liegen tausende Tonnen chemischer Kampfstoffe aus dem Zweiten Weltkrieg. Jetzt ist klar geworden, dass auch mit giftigen Hinterlassenschaften der Industrie zu rechnen ist. WWF fordert Nachforschungen

von GERNOT KNÖDLER

Der schwedische Ministerpräsident Göran Persson hat sich besorgt über die Altlasten der Ostsee geäußert. Beim geplanten Bau der Schröder’schen Gaspipeline von Russland nach Deutschland könnten „Minen, Gifte und andere Dinge“ aufgewirbelt werden, „die jahrzehntelang dorthin gekippt wurden“, warnte der Politiker kürzlich auf einer Ostsee-Konferenz auf der Insel Gotland. Er wolle einen guten Grund genannt bekommen, warum die Gasleitung nicht an Land gebaut werden sollte.

Persson bewies mit seinen Bedenken eine geradezu prophetische Gabe: Nur wenige Tage später wurde bekannt, dass die Papierindustrie in den 50er und 60er Jahren 21.000 Fässer mit insgesamt 9.000 Tonnen hochgiftigem Quecksilber in das Meer gekippt hat (taz berichtete). Einige der Fässer wurden zufällig bei geologischen Messungen entdeckt: auf dem Meeresgrund, wo sie verrotten.

Niemand weiß, ob diese Fässer nicht die Spitze eines riesigen Müllberges sind, der in früheren Jahrzehnten in der Ostsee angehäuft wurde. Denn bis in die 70er Jahre hinein konnten Unternehmen Müll im Meer versenken, ohne dafür eine Genehmigung einholen zu müssen. Außerdem sind nach dem Zweiten Weltkrieg tausende Tonnen Munition in der Ostsee versenkt worden, darunter große Mengen chemischer Kampfstoffe.

Die Fässer, die vor der schwedischen Industriestadt Sundsvall entdeckt wurden, enthalten ein Gemisch aus Beton und Quecksilbersulfid. Wird das Quecksilber frei, kann es sich in der Nahrungskette anreichern. Bereits in geringen Konzentrationen schädigt es das Nerven-, Herz-Kreislauf- sowie das Fortpflanzungssystem. Nach Angaben von Niels-Peter Rühl, dem Vizepräsidenten des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) entspricht die in den Fässern enthaltene Menge Quecksilber dem Dreifachen dessen, was im Jahr 2000 in die Ostsee eingeleitet wurde. „Es wäre sträflich, wenn man das im Meerwasser belassen würde“, findet Rühl.

„Was jetzt aus dem System rausgenommen wird, kann sich nicht diffus verteilen“, sagt Jochen Lamp, der Ostsee-Experte von der Umweltorganisation WWF. In der Tat sind einige Fässer bereits durchgerostet, der Beton beginnt zu zerbröseln. Der WWF verlangt, dass zunächst grundlegend untersucht wird, wo überall Fässer liegen und in welchem Zustand sie sind. Danach wäre die Frage zu klären, ob eine Hebung notwendig sei. „In manchen Fällen kann es sinnvoll sein, das Zeug liegen zu lassen“, sagt Lamp.

Der WWF-Mann findet, es sollte jetzt in den Archiven recherchiert werden, welche Firmen ebenfalls giftige Abfälle im Meer verklappten. „Man weiß, dass die Industrie anderswo Ähnliches gemacht hat“, sagt Lamp. Das sei damals völlig legal gewesen. Jetzt aber gelte es, die Umwelt vor den Spätfolgen zu schützen. Der für 2007 geplante Aktionsplan der Anrainer zum Schutz der Ostsee biete dazu eine hervorragende Gelegenheit.

Anita Künitzer vom Umweltbundesamt sieht ebenfalls Handlungsbedarf. „Dieses Altlastenproblem am Meeresboden müssen wir berücksichtigen“, sagt sie mit Blick auf den Aktionsplan. „Keiner kann ausschließen, dass solche Dinge passiert sind“, bestätigt BSH-Vizepräsident Rühl.

Als weniger schwerwiegend bewerten beide das Problem der chemischen Kampfstoffe, die in der Ostsee „entsorgt“ wurden. „Wenn mir jemand eine Million in die Hand drückte für die Ostsee, würde ich sie in die Reduktion der Nähr- und Schadstoffeinträge investieren“, sagt Rühl. Die Kampfstoffe seien dagegen ein nachrangiges Problem.

Wenn Giftgase wie Tabun oder Phosgen ausströmten, reagierten sie mit dem Meerwasser zu weniger schädlichen Stoffen, die schließlich in der See verdünnt würden. Selbst das Arsen, das in mancher Munition enthalten ist und nicht abgebaut wird, verteile sich in der ganzen Ostsee. Auch wenn all dieses Arsen auf einen Schlag frei würde, stiege die Konzentration des Stoffes in dem Binnenmeer nur minimal an, sagt Rühl. Bei den regelmäßigen Analysen des Meerwassers sei im Übrigen nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

Das größte Problem stellen für Rühl die Klumpen ehemaligen Senfgases dar, die ab und an in den Netzen der Fischer landen: Bei Berührung verätzt der Stoff die Haut. Er könne bei der dänischen Marine abgegeben werden, die bei Bornholm eine Spezialtruppe für den Umgang mit dem Kampfstoff und das Versorgen entsprechender Verletzungen stationiert habe. Rühl vermutet, dass die meiste Gasmunition inzwischen auf Nimmerwiedersehen im Schlick des Bornholmer oder Gotländer Beckens versunken ist – oder aber durchgerostet, so dass sich die Kampfstoffe bereits verflüchtigt haben.

Die geplante Gas-Pipeline könnte nach Ansicht des Koblenzer Umweltplaners Stefan Nehring aber noch mit einem anderen Problem konfrontiert werden: Konventionelle Munition – Brandbomben, Sprenggranaten, Panzerfäuste – die nach dem Krieg in großen Mengen im Meer versenkt wurde. Dazu kommen Unmengen Seeminen. „Man vermutet Zehntausende“, sagt Nehring, „gerade im Bereich der Pipeline.“