: Sparsam spendierte Küsse
Vom Leben aus Tragetaschen und den Tänzen der Inselkönige: Beim Tanz im August wurden im Podewil vier afrikanische Choreografen und Choreografinnen vorgestellt, die ihre Herkunft nicht stilistisch, wohl aber als Haltung zum Thema machen
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Sie küsst ihre Zuschauer auf den Mund. Nelisiwe Xaba küsst sehr vorsichtig und nicht, ohne zuvor einige schützende Maßnahmen ergriffen zu haben. Sie legt eine Toilettensitzschutzhülle aus Papier auf den Schoß des Zuschauers und hält ein Stück Plastik zwischen ihre und seine Lippen. Dabei ist ihr Gesicht sowieso schon unter einer hasenohrigen Maske verborgen, während ihr Körper in einer großen karierten Plastiktasche steckt.
Nelisiwe Xaba aus Johannesburg zeigte mit „Plasticization“ das kürzeste Stück des Programms „Sub-Sahara“, das vier Choreografen aus Afrika beim Festival Tanz im August vorstellte. „Plasticization“ hat es in sich: Xaba in ihrer Plastiktasche sieht aus wie der Geist des Überall-und-Nirgendwo-zu-Hause-Seins, eine Verschmelzung von Mensch und Gepäck. Sie streckt aus der Tasche ein Bein im Spitzen- und eins im Stöckelschuh, ein Arm im Gummistiefel und einer im Turnschuh folgen. Wenn Bein eins weiß- und Bein zwei rotbestrumpft sich zärtlich aneinander reiben, glaubt man für einen kurzen Augenblick, eine Anspielung auf die erotische Attraktivität verschiedener Hautfarben zu sehen. Aber das ist nur eine von vielen Assoziationen, die sich an die vier Schuhe heften. Keiner scheint erste Wahl, jeder greift in den Duktus des Körpers deutlich ein. Auf jeden Fall ist klar: Einfach lässt sich Identität unter diesen Umständen nicht finden.
Lange stand der Auftritt von afrikanischen Künstler in Europa unter bestimmten Topoi: Die Begegnung mit dem Fremden, die Suche nach dem Authentischen, die Balance zwischen Tradition und Moderne. In diesen Konstellationen drohte die Wahrnehmung zu erstarren. Dem Programm, das die Kuratoren von Tanz im August diesmal eingeladen haben, gelingt es, diesen Dispositionen zu entkommen. Zu Recht behaupten Ulrike Becker und André Theriault eine neue Generation von Choreografen kennen gelernt zu haben. Die Künstler aus Johannesburg, Dakar, Kinshasa und Madagaskar verorten ihre Herkunft nicht stilistisch; wohl aber wollen sie in den Haltungen, die sie einnehmen, einen Punkt machen für die Identität ihrer Kultur.
Die Küsse, die Xaba so vorsichtig spendiert, sind dafür ein schönes Beispiel: In vielen Gesellschaften der Welt stimmt das Verhältnis nicht mehr zwischen der Sexualisierung des öffentlichen Bildes vom Körper und den tatsächlichen Berührungen. Aber in von Aids geplagten Regionen leiden die Menschen noch viel mehr unter der Entfremdung von eigenen Bedürfnissen.
Drei der vier Stücke waren Soli und das drückt einem solchen Abend dann doch eine anstrengende Atmosphäre auf. Man schaut auf die Choreografien beinahe wie auf seltene Studienobjekte. Für Andréya Ouamba, der heute in Dakar arbeitet, und auch für Papy Ebotani aus Kinshasa ist der Umgang mit der Zeit zentral: Passagen mit flatternden, schnappenden und wirbelnden Bewegungen stehen Dehnungen der Zeit gegenüber, in denen sich der Blick nach innen kehrt. Dorthin zu folgen aber macht eine solche Programmstruktur nicht einfach.
Das letzte Stück hingegen, „Soritra (Spuren)“, von Gaby Saranouffi aus Antananarivo (Madagaskar) für drei Tänzer entwickelt, nahm einen voll und ganz mit. Die vielen Zöpfe, die Saranouffi und einer ihrer Tänzer tragen, schlingern und hüpfen bei jeder der schnellen und in vielen Richtungen ausbrechenden Bewegungen mit und steigern den Eindruck des Plötzlichen und Unvorhersehbaren. Komplexe Figuren aus Kurven und Linien breiten sich für kurze Zeit aus und verschwinden wieder, wie ein Netz, das ausgeworfen und mit einem Handgriff zurück in die Tasche gesteckt wurde. Zwischen den Tanzausbrüchen wechselten die Tänzer ihre Plätze wie Spielfiguren – dabei folgen sie den Spuren einer choreografischen Skizze aus jenen Zeiten, als die Könige der Insel ihre eigenen Tänze entwarfen.
Die Musik dazu von Tôty ließ Laute von Wasser und von Tieren, die nach Urwald und Tropen klangen, in eine dunkel und sanft grundierte elektronische Kulisse fließen. Ein nächtlicher Sound, dem das dunkel-goldene Licht entsprach. So entstand in Musik und Tanz eine Atmosphäre, in der sich urbane und landschaftliche Räume, künstliche und natürliche Rhythmen überlagern konnten.
Schade ist, dass ein solches Programm vom Festival Tanz im August, das innerhalb von 17 Tagen 24 Produktionen vorstellt, nur an zwei Abenden im Podewil präsentiert wurde. Das ist zu wenig, um die Augen für etwas, das neu entsteht, offen zu halten. Das Ende des Festivals gehört der Wiederbegegnung mit Künstlern, die man schon über einen längeren Zeitraum begleitet: Emio Greco zeigt ab Mittwoch im HAU 1 sein Stück „Hell“, Boris Charmatz, Raimund Hoghe und Julia Cima arbeiten im HAU 2 zusammen und die Rosas von Anne Teresa de Keersmaeker tanzen zu Mozart ab Donnerstag im Haus der Berliner Festspiele.