: „Die Muslime in den USA sind gut integriert“
In der arabischen Welt ist der Islamismus bereits zur Popkultur geworden, sagt der Orientalist Mokhtar Ghambou. Das sollte man jedoch nicht mit tatkräftiger Unterstützung für den Extremismus verwechseln: es geht um Symbole
taz: Herr Ghambou, in London wurde kürzlich ein Terroranschlag junger Muslime vereitelt, die in Großbritannien geboren wurden; man spricht von „homegrown terrorism“. Gibt es so etwas auch in den USA?
Mokhtar Ghambou: Terrorismus kennt keine Grenzen. Aber in den USA halte ich so etwas für eher unwahrscheinlich. Historisch gesehen hat der Islam keine ähnlich lange Tradition wie in Großbritannien. Die ersten Araber kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Amerika, die meisten waren jedoch Christen. Außerdem fühlen sich Muslime in den USA, wie andere Immigranten auch, nicht so sehr von der Gesellschaft ausgegrenzt.
Hat sich das seit dem 11. September nicht geändert?
In gewisser Weise ja. Aber die Marginalisierung von Muslimen in Europa und in den USA ist nicht vergleichbar. Terroristen oder radikale Imame kommen aus anderen Ländern, sie sind nicht in den USA geboren. Manche mögen islamischen Fundamentalismus predigen. Aber Hassprediger, die vor dem Teufel warnen, hat es in den USA schon immer gegeben: Das ist nichts Neues. Der entscheidende Punkt ist, wann Ideologie in Aktion umschlägt.
Und was führt dazu?
Extreme Ausgrenzung, Frustration, Indoktrination und eine gehörige Portion Dummheit – zu glauben, dass Gewalt der einzige Weg ist: ein Bündel von Faktoren.
Welchen Beitrag leistet die Außenpolitik der US-Regierung zur Radikalisierung?
Vor dem 11. September fühlten sich Muslime in Amerika nur indirekt von der US-Außenpolitik betroffen. Danach wurde die Außenpolitik zur Innenpolitik und die Immigranten in den USA waren plötzlich, wie die gesamte muslimische Welt, ein direktes Angriffsziel. Nach 9/11 kann man nicht mehr von Außenpolitik sprechen, Terrorismus ist als Problem genauso in New York wie im Mittleren Osten oder in Südafrika allgegenwärtig.
Wie werden die USA fünf Jahre nach 9/11 von Muslimen wahrgenommen?
Das Verhältnis der arabischen Welt und der USA war schon immer problematisch. Muslime glauben, die USA seien der verlängerte Arm Israels. Seit dem Fall der Sowjetunion sind die USA nun die einzige verbliebene Supermacht sind. Früher waren muslimische Immigranten stolz darauf, aus den USA zu kommen. Bereits nach dem ersten Golfkrieg hat sich das gewandelt. Alles, was danach kam, hat dieses negative Gefühl noch verstärkt.
Das Gefühl der Demütigung, nur Opfer und Spielball einer übermächtigen Macht zu sein?
Ja, es geht dabei auch um Stolz und Würde: ein idealer Nährboden für Fundamentalisten, die scheinbar einen Ausweg aus dem Dilemma der Ohnmacht liefern. Plötzlich bietet jemand eine Technik, mit der man mit der Weltmacht USA konkurrieren kann. Gewalt erzeugt Aufmerksamkeit, verbreitet Angst und Schrecken und gibt das Gefühl, in den Lauf der Geschichte eingreifen zu können und wichtig zu sein.
Ein Ausdruck von Hybris?
Die meisten Terroristen kommen aus der Mittelschicht, die großen Wert auf Bildung, Erziehung und die Identität legt. Diese Leute glauben, dazu berechtigt zu sein, den Westen herauszufordern.
Gibt es einen Unterschied zwischen radikalen Muslimen in Europa und im Nahen Osten?
Nun, die radikalen Muslime im Westen können leichter strategische Ziele in New York, Paris oder London angreifen. Die radikalen Muslime im Mittleren Osten schienen bislang eher isoliert und zu weit weg zu sein, um den Westen zu bedrohen. Aber die Ereignisse in London haben gezeigt, dass diese Theorie falsch ist. Mittlerweile wird Terror importiert und exportiert wie eben alles andere auch. Die Umstände und Schauplätze mögen unterschiedlich sein, aber nicht die Ideologie.
Was treibt die Attentäter in London und anderswo?
Jede Ideologie hat eine Botschaft und will die Welt verbessern. Die islamischen Fundamentalisten würden sich nie als solche bezeichnen, sie sprechen von Wahrheit und Gerechtigkeit für die Menschheit. Die Überzeugung kommt davon, dass sie heilige Bücher haben, die jahrhundertealt sind.
Würden Sie den islamischen Fundamentalismus als „modern“ bezeichnen?
Ja, es ist ein absolut modernes Phänomen. Ich würde ihn mit dem Faschismus und anderen destruktiven Ideologien vergleichen.
Bin Laden auf T-Shirts, CDs und Kassetten, der Kult um „Märtyrer“: Das wirkt wie ein Stück Popkultur.
Wir leben in einer Welt der kulturellen Simulation, wo man sich mit Soundbits identifiziert. Für viele Muslime haben diese Terroristen ein positives Image. Das sollte man jedoch nicht mit aktiver Unterstützung verwechseln: Es ist mehr ein Symbol. Die USA steht für eine Akkumulation aller Ungerechtigkeiten, vom Kolonialismus bis heute. Auch in Argentinien tauchten deshalb wohl vor ein paar Jahren Poster von Bin Laden auf.
Also ein antiamerikanischer Reflex?
Wer würde nicht symbolisch jemand unterstützen, der seinen Feind bekämpft? Wenn in Afghanistan ein Flugzeug abgeschossen wird, kann jemand tausende von Kilometern entfernt, vielleicht in Algerien, Genugtuung spüren: Jemand hat ihm eine Stimme gegeben. So funktionieren politische Symbole oder politische Symbolhandlungen: Leider findet das Anklang bei vielen Menschen in der islamischen Welt, die sich marginalisiert fühlen.
Welche Rolle spielen diese Gefühle in Bezug auf Israel?
Die Gründung Israels 1948 erzeugte ein Gefühl der Ohnmacht, wie es die Auseinandersetzung mit dem Westen im 18. und 19. Jahrhundert und der Kolonialismus ausgelöst hatten: ein Gefühl von Verlust, ja sogar der Niederlage der eigenen Zivilisation. Israel wurde als Teil des Westens betrachtete, nie als Teil des Orients.
Vor wenigen Tagen gab es in Kairo erneut Pro-Hisbollah-Demonstrationen, bei denen es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Besteht eine fundamentalistische Gefahr für die Regime in Ägypten und Jordanien, die mit Israel einen Friedensvertrag haben?
Das glaube ich weniger. Problematisch war die Haltung Ägyptens gegenüber dem Krieg im Libanon: Kritiker würden sagen, Ägypten habe Israel grünes Licht gegeben; andere wiederum warnen vor einer „schiitischen Renaissance“, die sich vom Irak und Libanon auf andere Länder der Region ausbreiten könnte. Ich denke, es gibt höchstens eine politische Bedrohung, die mit Demokratie und einem Staat zu tun hat, der die Meinung seiner Bürger repräsentiert.
Sie lehren an der Yale-Universität, Ihr Doktorvater war Edward Said. Wie lassen sich die kulturellen Vorurteile, die Said der westlichen Orientalistik unterstellte, überwinden?
Man muss sehr kritisch mit sich selbst und seiner Arbeit umgehen. Nur mit einem säkularen, intellektuellen Vorgehen kann man eingefahrene Vorstellungen überwinden. Danach erst ist es möglich, sich zu begegnen und einen Dialog zu eröffnen. Vor dem 11. September wurde viel vom „Global Village“ gesprochen. Wir sollten diesen Begriff neu aufgreifen und die Welt in ein Dorf verwandeln, das uns allen gehört. INTERVIEW:
ALFRED HACKENSBERGER