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Archiv-Artikel

Mission Dussmann

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Im Klartext: Gott ist für die Doofen, oder? Jedenfalls in Mitteleuropa. Mir reicht’s jetzt

Im Kellerauditorium von Dussmanns Kulturkaufhaus stellte Wolfram Weimer, der Chefredakteur von Cicero, seine Streitschrift vor: „CREDO“ – gelb auf violett. Der Untertitel „Warum die Rückkehr der Religion gut ist“ klingt wie aus dem Trendbüro: In den Siebzigern seien die Schlüsselwörter „Emanzipation und Kollektivismus“ gewesen, in den Achtzigern „Leistung und Individualismus“, in den Neunzigern „Globalisierung und Spaßgesellschaft“, seit Zweitausend dann hätten „Neue Ernsthaftigkeit, Werte und Nation“ aufgeholt.

Der ältere Herr neben mir kicherte: „Lieber Gott, wir danken dir für das Dezimalsystem.“ Der Referent fuhr fort: „Und nun kommt noch als frischestes Element dazu: die Aktivierung des religiösen Bewusstseins.“ Selbst auf die „letzte Insel des Agnostizismus, die Bundesrepublik“ kehre Gott zurück, wie ein „lange verschollener Vater“.

Angesichts dieser Perspektive wollte ich unauffällig gehen, aber der kleine Herr neben mir beugte sich gespannt vor und versperrte den Gang. „Mal sehen, wie er das begründet“, murmelte er und blätterte in den zweiundsiebzig Seiten des Traktats. Von vorn kamen grundstürzende Sätze: Wir seien am Ende einer langen Welle. Der Säkularisierungsprozess komme zum Erliegen.

Nach zweihundert Jahren Aufklärung müssten wir den „ethischen Bankrott des Abendlandes“ anmelden. In das ethische Vakuum ströme nun die Religion, furchterregend in ihren islamischen und amerikanischen Varianten, aber genau deshalb müsse Europa die „positiven Elemente“ der Religion „nutzen und gestalten“, sich „religiös alphabetisieren“.

Der Redner sprach vom Anwachsen der „Gottessehnsucht“, ironisierte den „Dialog der Kulturen“ als Laschheit, pfefferte Breitseiten gegen die „geifernden Religionstotschläger der Moderne“, all diese Kantianer, Marxisten und Freudianer, knüpfte kühne Kausalketten von Säkularisierung zu Faschismus und Kommunismus und rief zur religiösen „Mobilisierung der eigenen Kultur“ auf, gegen den Fundamentalismus und die „entgleisende Moderne“.

„Starker Tobak“, murmelte der kleine Herr. Ich musterte ihn von der Seite. Schütteres graues Haar, blitzblaue Augen hinter einer Fielmannbrille, weiche, dabei konturierte Lippen, braune Halbschuhe und ein Ninoflex-Mantel aus den frühen Sechzigern, aus dem er jetzt einen Stift zog und sich Notizen auf die Titelseite des Traktats machte. „Die Moderne erzwingt ein wachsendes Maß an Glauben“, kam es von vorne, denn: „Ich muss im Supermarkt glauben, dass die Lebensmittel nicht giftig sind, ich muss dem Autobauer glauben, dass die Bremse wirklich bremst.“ Oder: „Die Mediengesellschaft ist eine riesige Glaubensgemeinschaft.“ Oder: Auch die Evolution sei „letztlich eine Glaubensgeschichte“. Da musste mein Nachbar laut lachen. Und schließlich: Gegen „Jahrzehnte der kulturellen Selbstschwächung unserer Nation“ und der Zerstörung des „Respekts vor Größe“ könne nur Religion helfen.

Während der Redner von der Schönheit traditioneller Tischordnungen bei kirchlichen Trauungen sprach, vom Schatz der „Mythen und Heilsgeschichten“, die all die „albernen Kunsthappenings“ ablösen und unsere Kinder pisatauglich machen könnten, und von den segensreichen Folgen des Gottesglaubens auf die Zeugungslust, linste ich dem grauen Herrn über die Schulter. Mit großen Bleistiftbuchstaben stand da: „ Lebensrahmungsbedürfnisse?“, und „Gott als Warentester?“, „Angstdämpfer in der Risikogesellschaft?“ und „Politisches Viagra?“. Darunter hatte er einen Strich gemacht, und unter dem stand: „Religion als Mittel zum Zweck = schlechte Funktionalisierung des Heiligen“ Und dahinter in Klammern: „(selbst Benedikt?)“

Er hatte mein Kiebitzen bemerkt und blickte mich an. Nicht abweisend, eher komplizenhaft. Dann nickte er zum Vortragenden hin. Der sagte grade: „Das christliche Ferment trägt im Grunde alles, was unsere Identität ausmacht“, da mussten wir beide kichern, wie in der Konfirmandenstunde.

Weimer setzte zum Endspurt an. Der Westen könne die Kraft zu einer kämpferischen Menschenrechtsoffensive nur aus dem Christentum ziehen, dessen „revolutionäre Botschaft“ die Gottespräsenz in jedem Einzelnen sei, unabhängig von Rasse, Sprache, Herkunft oder Geld: „Somit kommt der Religion eine Fundamentalfunktion für den Staat zu.“ Mein Nachbar flüsterte mir zu: „Schöner Gedanke ursprünglich, in der Praxis hieß es leider meist: Zehntausend Pfund für mich, zwei in der Woche für dich, aber wir alle sind Kinder Gottes. Aber stabilisiert hat es gut.“ „Orwell?“, entgegnete ich, und er nickte und sagte: „Ja. Auch einer von meinen Leuten.“

Ich war verwirrt. Bis dahin hatte ich ihn für einen Ost-Rentner gehalten, dies klang eher nach einem von den vielen Unbehausten, die in literarischen Wärmestuben auftauchen, immer leise murmelnd und die Manteltaschen voll mit zerlesenen Taschenbüchern. Er merkte, dass ich von ihm abrückte, und schwieg eine Weile.

Dann blätterte er in dem Buch mit dem gelben CREDO und hielt mir die letzte Seite hin. „Nur eine Minorität ist in der Lage, Religion durch Kultur zu ersetzen. Die große Mehrheit der Menschen braucht Transzendenz, den Glauben an eine andere Welt“, stand da. Der kleine Herr sagte: „Im Klartext heißt das doch wohl: Gott ist für die Doofen, oder? Jedenfalls in Mitteleuropa. Und jetzt reicht’s. Streng genommen geht das gegen das Zweite Gebot.“ Er ließ die Broschüre liegen, ging die Treppe hoch und winkte mir, ihm zu folgen. Oben nahm er mich am Arm: „Ich würde Ihnen gern drei meiner engeren Mitarbeiter vorstellen, dahinten.“ Drei Herren, etwa seines Alters, standen in der Pop-Abteilung, irgendwie unpassend gekleidet, die Kopfhörer komisch auf ihren Köpfen.

Nach 200 Jahren Aufklärung müssten wir den „ethischen Bankrott des Abendlandes“ anmelden

„Bruder Charles hier“, stellte der kleine Herr mir den ersten vor, „hat sich große Verdienste erworben; er hat aufgedeckt, dass jeder Mensch die ganze Schöpfungsgeschichte in seinen Zellen mit sich trägt. Und Bruder Sigmund hier hat gezeigt, dass in den großen alten Geschichten die Wünsche stecken, die ihr nur ernst nehmen müsst, um sie wirklich werden zu lassen.“ Die beiden verbeugten sich altmodisch herrenhaft und setzten ihre Kopfhörer wieder auf. Der dritte stand bei den Hörbüchern.

„Bruder Karl“, sagte mein Begleiter, „ist mein Spezialist im Kampf gegen Goldene Kälber.“ Er blickte liebevoll auf sein drei „Mitarbeiter“, wie er sie nannte: „Großartige Spezialisten für die Verletzlichkeit der Welt, für die Unabdingbarkeit der Liebe, für die Unvermeidbarkeit von Veränderungen. Die würden dem jungen Mann im Keller Zunder geben. Was wollte der doch gleich: „Wettbewerb und Caritas‘? Geben Sie doch mal zu: das ist ein wenig dünn … nach all den Bemühungen. Und im Übrigen, mein Wertester“, jetzt sah er mich richtig väterlich an, „Aufklärung ist nichts anderes als Religion mit irdischen Mitteln.“

Es wurde dann noch ein munterer Abend. Wir standen da, zu fünft, mit Kopfhörern, und spielten uns alte Lieder von Gustav Mahler und Donovan und Lennon vor und ein neues von Neil Young. Da wurde mir richtig feierlich zumute, obwohl es bei Dussmann war und erst Mitte August. Und nicht einmal Sonntag.

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin