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: Der glücksbegabte Manu

Die Zeugen (Les témoins, André Téchiné, F 2007). Über Salzgeber für 19,90 Euro zu bestellen

Es ist das Jahr 1984, und kaum einer hat je von Aids gehört

Der junge Manu, der beim Cruisen den Arzt Adrien kennenlernt, der mit der Schriftstellerin Sarah befreundet ist, die mit dem Polizisten Mehdi verheiratet ist, der Manu bei einem Badeunfall das Leben rettet und dann eine Affäre mit ihm beginnt – dies die Figurenverkettung im Zentrum von André Téchinés Film „Die Zeugen“. Weil da aber von Anfang an diese Kette ist, weil die Erzählung immer wieder von einem Glied der Kette zum anderen springt, weil die Verhältnisse der Figuren sich schicksalhaft verschieben, verändern, hat dieser Film kein wirkliches Zentrum. Auch nicht in Manu, der an Aids erkrankt, der sich von Mehdi zurückzieht, der von Adrien, dem unglücklich Liebenden, betreut und gepflegt wird.

Da ist noch Julie, Manus Schwester, die Sängerin, die in einem Hotel lebt, das eigentlich ein Bordell ist und am Ende von Mehdi ausgehoben wird. Manu verfällt, er stirbt, er hält sein kurzes Leben und was ihm daran erinnernswert scheint, auf Tonband fest, aber er weiß fast nicht, wie ihm geschieht. Es ist das Jahr 1984, kaum einer hat von Aids gehört – und „Die Zeugen“ ist eben nicht nur und nicht einfach ein Film über einen frühen Aids-Toten, ist keine Historienrekonstruktion und kein Weepie, sondern ein Film über die Menschen, in deren Leben der eigentlich so glücksbegabte Manu plötzlich auftaucht und aus deren Leben er ebenso rasch wieder verschwindet.

Téchiné zeigt Manus (Johan Libéreau) Krankheit und Tod, aber er verharrt nicht darauf. Er springt zu Sarah (Emmanuelle Béart), der Kinderbuchautorin und jungen Mutter, die feststellen muss, dass sie mit real existierenden Babys nichts anfangen kann. Und er zeigt Mehdi (Sami Bouajila), der als Polizist ein harter Hund ist und sich das erste Mal in einen Mann verliebt. Adrien (Michel Blanc) hält seine Eifersucht auf Mehdi kaum im Zaum. Julie (Julie Depardieu), die Schwester, ist Sängerin und möchte die Chancen ergreifen, die sie an der Oper bekommt.

Drei Kapitel hat der Film – Sommer, der Krieg, wieder Sommer. Es gibt Szenen des Glücks, zu denen die sehr präsente Musik Philippe Sardes aufwallt. In anderen Momenten klingt sie eher nach Hitchcocks Hauskomponisten Bernard Herrmann, nicht weil sie einen Thrill beschwört, auf den es der Film gar nicht anlegt, sondern eher, weil wenigstens sie einzelne Momente aus diesem reißenden Fluss herausheben muss. Irgendetwas klopft dann auch mit dem Xylofon an die Pforte. Während in den sprunghaften Szenen das Glück und das Unglück verwehen, markiert immerhin die Musik durch ihre Rückgriffe aufs romantische Repertoire die Größe des einzelnen Augenblicks.

Téchiné blendet dagegen insistent weg. Er erzählt geradezu synkopisch, lässt Manus Tod aus, springt zur Beerdigung und lässt sie dann ebenfalls weg. Eilt aber von da in die Oper – und macht durch diesen brutalen Schnitt doch etwas möglich: Julies Gesang wird zum Ausdruck der Trauer, schöner Sieg der Montage über die Kontinuität. Mehdi und Sarah richten ihre Beziehung wieder ein. Alain findet im selben Park, in dem ihm Manu begegnet ist, ein größeres Glück. Sarah schreibt den Roman, der die Geschichte Manus bezeugt. „Les temoins“ ist als Film selbst ein Erinnerungsakt, aber einer, der die Binsenweisheit zur Form hat, dass das Leben weitergeht. Und wer überlebt, kann es bezeugen. EKKEHARD KNÖRER