MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER : Der Stadtschreiber sieht alles
Nun ist es aber vorbei mit der schönen neuen Welt: Die Kameras am Marktplatz müssen weg
Es ist ein Skandal: Wir sind monatelang gefilmt worden. Und haben es nicht mal gemerkt, sonst hätten wir wenigstens mal in die Kamera winken können. In unserer kleinen brandenburgischen Ackerbürgerstadt wurde seit Ende letzten Jahres der „historische Marktplatz“ überwacht – mit großer Selbstverständlichkeit und gleich mit drei Kameras, obwohl dort nun wirklich nichts los ist.
Vielleicht gerade deshalb hatte der Bürgermeister (SPD) Angst um seinen neu gestalteten Marktplatz, den kaum jemand betritt: „Das war sehr teuer.“ Es ist eben nicht billig, die Geschichte umzuschreiben, dort, wo bis vor kurzem noch das sowjetische Ehrenmal stand, ein unförmiger Steinklotz, dessen Errichtung am Standort des vormaligen Weltkriegsdenkmals der Legende nach mit vorgehaltener Kalaschnikow erzwungen wurde, steht nun ein neuer, dieses mal sogar wasserspeiender Klotz aus Granit. Und vor der massivem Widerstand der PDS geschuldeten Bronze-Plakette, die des verschwundenen Sowjetmahnmals mahnt, stehen stets rote Nelken. Doch auch die können über die entschiedene, wenn auch lediglich optische Bundesrepublikanisierung des Marktplatzes nicht hinwegtäuschen, es fehlt nur noch eine Wall-Toilette. Wie dem auch sei: Die Stadtverordneten hatten der Überwachung zugestimmt, bis ihnen die Brandenburger Datenschutzbeauftragte Dagmar Hartge einen Strich durch die Rechnung machte: Die Kameras müssen weg, obwohl der Bürgermeister sich keiner Schuld bewusst war: „Die Bilder werden doch lediglich 30 Tage gespeichert und dann automatisch überschrieben, ohne dass sie jemand anschaut.“ Ja, dann!
Wir haben dieses Problem neulich mal in der lokalen Start-Up-Szene angesprochen, es handelte sich unter anderem um die Betreiberin eines Tex-Mex-Restaurants – die keinen leichten Stand hat, weil sich die Bevölkerung noch nicht an das neumodische Essen gewöhnt hat – und die Inhaberin eines florierenden Nagelstudios. Sicherheitspolitische Bedenken hatte man dort eher in Bezug auf Berliner Türken, die illegal im Tiergarten grillen, auch der durch die geplanten Bombenattentate in Regionalzügen näher gerückten Terror-Bedrohung wurde keine größere Bedeutung zugemessen, schließlich liegt der Bahnhof etwas außerhalb der Stadt und man fährt sowieso Auto – die in den liebevoll „Brotbüchsen“ genannten Regionalexpressen installierten Überwachungssysteme waren bislang niemandem aufgefallen. Die Kameras am Marktplatz scheinen den Ackerbürgern irgendwie am Arsch vorbeizugehen, demnach hätte der jetzige Bürgermeister Recht: Niemand schaut sich Bänder an, auf denen nichts zu sehen ist. Die Zeit, in der man den „aufrechten Gang“ geübt hatte, ist schon lange her, stattdessen liegt man horizontal auf der Couch.
Mein Freund und ich haben beschlossen, dass es so nicht weitergehen kann. Er will nun Bürgermeister werden und ich mache ihm den Jörn. Als First Gentleman kümmere ich mich dann um die Landfrauen und halte Reden zur Eröffnung von Seidenmalerei-Ausstellungen im Rathaus, außerdem fahre ich den Dienst-Mercedes, denn der zukünftige Bürgermeister hat gar keinen Führerschein.
Der Plan geht so: Wir verkaufen die Video-Überwachungsbänder vom Marktplatz an die ARD, die sie dann nachts unter dem Titel „30 Tage in einer brandenburgischen Ackerbürgerstadt“ sendet – mit „Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands“ weiterzumachen wäre in Anbetracht der Sicherheitslage ohnehin zynisch. Mit den so erwirtschafteten vielen, vielen GEZ-Millionen sanieren wir den total verfallenen und daher auch schon lange geschlossenen Jugendklub am „historischen Markplatz“, dann kommen die Jugendlichen auch nicht mehr auf die Idee, vor lauter Langeweile Graffiti auf Betonklötze zu schmieren. Von dem übrig gebliebenen Geld stellen wir einen BAT-besoldeten Stadtschreiber ein, der den Ackerbürgern mal ein bisschen auf die Finger guckt. Statt Kameras. So richtig über den Weg traue ich denen nämlich nicht.
Fragen zum Terror? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH