: Der Unsinkbare
Wolfgang Schmidt aus Kiel hat im Zweiten Weltkrieg fünf Schiffsuntergänge mitgemacht, zuletzt mit der von Günter Grass besungenen Wilhelm Gustloff. Obwohl er noch Schlimmeres erlebt hat, quälen ihn keine bösen Träume aus dem Krieg
aus Kiel GERNOT KNÖDLER
Dass Wolfgang Schmidt noch lebt, kann man getrost als Wunder bezeichnen – ein biologisches Wunder, aber auch eines gegen alle Wahrscheinlichkeit. 87 Jahre alt ist der ehemalige Schiffsmaschinist aus Kiel. Als Marinesoldat im Zweiten Weltkrieg ist er mit fünf Schiffen und einem Bunker abgesoffen. Und hat beim Untergang des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“ Anfang 1945 die größte Schiffskatastrophe der Menschheit überlebt.
Schmidt wirkt weit jünger als 87. Er hat fleischige, etwas hängende Wangen und einen gesunden Appetit. Wir treffen uns im Kieler Ratskeller – bei ihm zu Hause wird renoviert. Sind die Handwerker fertig, will er zusammen mit seiner temperamentvollen Frau Herta eigenhändig Regale und Bilder an die Wand dübeln. Auch ihr Sohn könnte locker für 53 durchgehen statt für 63. Es muss ein Gen für ewige Jugend walten in dieser Familie. Vielleicht ist aber auch die Gemütsruhe ihres Oberhauptes das Geheimnis. „Ich habe noch nicht ein einziges Mal einen Alptraum gehabt von diesen Dingen“, sagt Wolfgang Schmidt.
Die Reihe der Schmidt‘schen Schiffsuntergänge beginnt im September 1940 vor Norwegen. Monatelang hatte er aufgebrachte norwegische und englische Schiffe nach Deutschland überführt. Auf einem Truppentransporter sei er wieder einmal auf dem Weg nach Norwegen gewesen, als es am 2. September gegen 21 Uhr zum ersten Mal gekracht habe.
Vom Luftdruck wird er hinter eine Windhutze geschleudert. Sein Glück, denn nach einem zweiten Treffer schießen Stichflammen links und rechts an dem Lüftungsstutzen vorbei. Menschen springen brennend von Bord. Als der Dampfer beginnt, auf ebenem Kiel zu sinken, klettert Schmidt an einem Seil die Bordwand hinunter. Ein Gebirgsjäger aus dem Truppentransport rutscht in Panik nach und zertritt ihm mit seinen Nagelstiefeln die Hände.
Schmidt rettet sich auf ein Floß. Es hat einen dicken Gummiwulst außen und innen einen Netzboden, unter dem die Paddel befestigt sind. Einer der „Kraxlhuber“ von der Gebirgsdivision leiht Schmidt sein Taschenmesser, um die Paddel loszuschneiden. Als ihm das Messer im kalten Wasser aus der Hand gleitet, beklagt sich der Gebirgsjäger. Schmidt haut ihm ein Paddel vor den Kopf.
Schätzungsweise 800 Mann seien beim Sinken des Dampfers ertrunken, sagt er. Von den 13 Mann seines Prisenkommandos überlebten drei. Zwei der Toten wird Schmidt später in einer Fischhalle identifizieren.
Der alte Mann erzählt seine Geschichte ohne erkennbare Emotionen. Er hat sie sich im Kopf zurechtgelegt und berichtet konzentriert: von der Rekrutenausbildung in Eckernförde bis zum Wiedereintritt ins Zivilleben in Kiel, zuerst auf einer Werft, dann als Motorenschlosser bei der Post.
Im September 1940 wird Schmidt neu eingekleidet und auf ein Minenräumboot auf der Donau versetzt. Während eines Werftaufenthalts in Linz lernt er seine Frau kennen. Schmidt beobachtet Stuka-Angriffe auf Belgrad und arbeitet sich immer weiter donauabwärts vor, bis zum 22. Juni 1941, wo er zu Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion unter Feuer gerät.
Beim Minenräumen fahren fünf Boote parallel voraus, um die Taue der am Grund verankerten Minen zu kappen. Ein Boot fährt hinterher, um die auftreibenden Minen unschädlich zu machen. Schmidt hat Glück: Statt Dienst an der Maschine zu tun, darf er vom Achterdeck aus Minen abschießen, als sein Boot auf so ein Teufelsei aufläuft. Er rutscht ins Wasser, weil sich das Deck senkrecht stellt. Zwölf Männer sterben.
Das nächste Kommando führt Schmidt auf den Frachter „Theresia Wallner“, der zum Sperrbrecher umgebaut worden ist. Der vordere Laderaum ist voll von schwimmfähigem Material, weil das Schiff nicht sofort sinken soll, wenn es auf eine Mine läuft. „Vor Odessa“, sagt Schmidt ironisch, „ sind wir befehlsgemäß auf eine Mine gelaufen“. Danach sollte er als Motoren-Lehrer in Kiel Dienst tun. „Da habe ich an sich einen guten Job gehabt“, sagt Schmidt, „aber es hat mir nicht gefallen“. Dabei konnte er sogar zu Hause schlafen. Aber der junge Mann hatte noch nicht genug vom Seekrieg. Im Juli 1942 ließ er sich auf die „Skagerrak“ abkommandieren: Minenlegen im Eismeer, Schwerstarbeit.
Anderthalb Jahre später dampft die „Skagerrak“ zur Ausrüstung nach Swinemünde. Geleitet von einem Minenräumer tastet sich das ehemalige Fährschiff die norwegische Küste entlang. Schmidt hat die schwerste Grippe seines Lebens und liegt am 20. Januar mit 39 Grad Fieber in der Koje. „Im Laufe des Vormittags kriegte ich ein mulmiges Gefühl“, erinnert er sich. Er zieht sich die Schwimmweste an und legt sich in die Unteroffiziersmesse unterhalb der Brücke.
Als Fliegeralarm gegeben wird, sieht Schmidt durch ein Bullauge neun Torpedoflugzeuge, die das Schiff beschießen und Torpedos werfen. Schmidt beobachtet, wie die Flak auf dem Bootsdeck zertrümmert wird, wie der Mast umknickt und der Beobachter aus dem Korb fällt. Schmidt springt über Bord und hat das Glück, sich schnell aus dem eiskalten Wasser in ein Floß ziehen zu können. Als der Bordarzt des Minensuchers, der ihn aufgenommen hat, später das Fieber messen will, ist es „wie weggeblasen“.
Nur die Hälfte von Schmidts Minenleger-Kameraden überlebt. Für sie gibt es im Zug nach Stavanger Rum. „Alle ließen sich volllaufen“, erinnert sich Schmidt. Um den Norwegern nicht das Schauspiel einer demoralisierten Truppe zu bieten, werden sie für die Weiterreise in Busse verfrachtet. Statt in den Sonderurlaub schickt man Schmidt zu einem U-Boot-Motoren-Lehrgang nach Gotenhafen, dem heutigen Gdingen. Wohnschiff für die dortigen U-Boot-Soldaten zur Ausbildung ist die „Wilhelm Gustloff“, ein Vergnügungsdampfer der „Kraft durch Freude“-Bewegung.
Im Januar 1945 wird die „Gustloff“ wieder seeklar gemacht. Sie soll 900 Mann der U-Boot-Lehrdivision in den Westen verfrachten. Dazu 160 Verwundete und einige Tausend der unzähligen Flüchtlinge, die in Gotenhafen angekommen sind, seit die Rote Armee auf das Reichsgebiet vorgedrungen ist. Am Abend des 30. Januar, acht Stunden, nachdem das Schiff abgelegt hat, wieder eine Vorahnung. Als Schmidt von der Wache kommt, behält er seine Kleidung und die Segeltuchschuhe an. Die Schwimmweste legt er sicht unter den Kopf. Gegen 21 Uhr treffen drei Torpedos eines sowjetischen U-Bootes das Schiff. Die „Gustloff“ hat Schlagseite nach Backbord.
Schmidt wird mit einem Strom panischer Menschen auf das Oberdeck gespült. Draußen herrschen minus 18 Grad und Schneegestöber. Während sich das Schiff auf die Seite neigt und sich das vereiste Deck immer steiler stellt, gelingt es Schmidt, die Backbord-Reling zu fassen. Ein Marinemädchen klammerte sich an ihn. „Die hat mich nicht mehr losgelassen“, erzählt er. Mit ihr zusammen klettert er auf die Bordwand und von Bullauge zu Bullauge in Richtung des höher liegenden Hecks.
„Die einen sprangen in Panik sofort über Bord“, erinnert sich Schmidt. „Viele hatten Angst vor dem Sog.“ Weil die Ostsee nur wenige Dutzend Meter tief, die „Gustloff“ aber mehr als 200 Meter lang war, habe er darin keine Gefahr gesehen. Seine Sorge sei gewesen, so lange wie möglich dem eisigen Wasser fernzubleiben.
Kurz vor dem Sinken des Schiffes schwemmt ihn eine schwere See von der Bordwand, er verliert das Mädchen. „Auf einmal schossen die Flöße wie Tennisbälle aus dem Wasser heraus“, erzählt er. Schmidt gelingt es, sich über den dicken Gummiwulst in eines zu wälzen. Von den Menschen, die sich an dem umlaufenden Tau des Floßes festhalten, zerrt Schmidt einige zu sich hinein.
Das Floß treibt auf das zur Rettung herbeigeeilte Torpedoboot „T36“ zu. Doch an der vereisten Bordwand kleben lauter leere Flöße. Schmidt wälzt sich von einem zum anderen, bis er die Bordwand erreicht und hochgehievt wird.
Seine Erlebnisse hat er für sich behalten. „Wir wussten von nichts“, sagt seine Frau Herta. Nur als sie einmal auf einer Berghütte Silvester feierten und am Himmel Bomber über sie hinweg zogen, wunderte sie sich. Da rannte ihr Mann wie von der Tarantel gestochen nach draußen.
Zwei Wochen zuvor, Mitte Dezember, war er in einem Bunker in Gotenhafen fast ertrunken. Nach einem Treffer stieg das Wasser so hoch, dass er kaum noch Luft schnappen konnte. „Ich hatte zum ersten Mal echt abgeschlossen“, erinnert er sich. „In Sekundenschnelle läuft noch mal das ganze Leben ab.“
Doch das Wasser sank wieder, und man rief ihm zu, auf gut Glück durch eine Öffnung zu tauchen, hinter der Licht schien. Dahinter war ein Schacht, durch den sie ihn ins Freie zogen. Erst zwei Tage später kam er wieder zu sich. „Das war der einzige Fall, wo ich Nachwirkungen gespürt habe“, sagt Schmidt. Zwei Monate später war die Platzangst bei Luftangriffen abgeklungen.
„Mein Mann ist ein Ruhiger“, sagt Herta Schmidt. „Alles mit Bedacht.“ Er selbst geht so weit, sich als „sturen Bock“ zu bezeichnen, der seinen Weg geht, auch wenn die Welt um ihn herum zusammenbricht. „Ich bin Realist“, sagt Wolfgang Schmidt. Dass er in Notsituationen so umsichtig gehandelt habe, sei dem Glück zuzuschreiben, dass er nie verwundet wurde. „Dann“, glaubt er, „ist alles anders.“