Wahnsinn und Routine

SCHWERPUNKT OSTEUROPA Am Mittwoch wurde das zehnte Internationale Literaturfestival Berlin eröffnet

Juan Goytisolo trägt auf Spanisch vor. Ein Massenschleichen Richtung Kopfhörerausgabe ist die Folge

Jetzt durfte er endlich kommen. Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu, der noch im März das Flugzeug wieder verlassen musste, das ihn zur lit.cologne nach Deutschland hätte bringen sollen, hat eine Ausreisegenehmigung erhalten, um in Berlin am Internationalen Literaturfestival teilzunehmen. Dort saß er am Eröffnungsabend im Auditorium, vom Publikum mit nachdrücklichem Applaus empfangen. Liao Yiwu wird in Berlin aus seinem in China verbotenen Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ lesen und am heutigen Freitag auch beim Harbourfront Festival in Hamburg auftreten. Und auch wenn es vermessen gewesen wäre, diese erfreuliche Entwicklung als eigenen Erfolg zu verbuchen, war es auf jeden Fall ganz in Ordnung, dass der Berliner Festivalleiter Ulrich Schreiber in seiner Begrüßungsansprache auf die weltweiten Lesungen von Werken Liao Yiwus verwies, die das Literaturfestival für den 4. Juni dieses Jahres initiiert hatte. Geschadet hat es ja immerhin nicht. Stolz vermeldete Schreiber auch einen schon vorab erzielten neuen Besucherrekord, in der Sparte Kinder- und Jugendbuch nämlich, deren Veranstaltungen regelmäßig bereits vor Festivalbeginn ausgebucht sind. Im Übrigen hatte der Festivalchef eine Frühherbsterkältung, was aber nicht der einzige Grund dafür sein konnte, dass die Einführungsveranstaltung mit einer hart an Abgenudeltheit grenzenden Routiniertheit über die Bühne ging. Vielleicht fremdelte man auch mit der etwas zu großen Bühne des Auditoriums im Haus der Kulturen der Welt, in dem man für dieses Jahr Asyl gefunden hat. Das Haus der Berliner Festspiele in der Schaperstraße wird zurzeit renoviert.

Juan Goytisolo war eingeladen, die Eröffnungsrede zu halten, nach den jungen, englischsprachigen Frauen der letzten Jahre nun also ein alter, spanischsprachiger Mann. Eine für das Publikum so unbequeme wie überraschende Neuerung. Man konnte zwar beim Anhören der kenntnisreichen Einführung in des Autors Leben und Werk, die Sigrid Löffler vorher gab, sehr wohl registrieren, dass Deutsch nicht zu den Sprachen gehört – und es sind etliche –, die der Autor beherrscht. Dennoch fiel an dieser Stelle noch niemandem ein, dass es vielleicht schwierig werden könnte, dem Vortrag zu folgen. Als der Romancier dann auf Spanisch zu reden beginnt, setzt ein verstohlenes Massenschleichen hinaus zur Kopfhörerausgabe ein. Da irgendwann alle wieder hereinkommen müssen, begleiten konstant leise Wanderungsbewegungen die Rede des Autors. Die sich im Übrigen völlig unpolitisch gibt, anders als man es von einem Schriftsteller erwarten könnte, der einmal Kommunist gewesen ist und unter Franco ins Exil ging, aus dem er nie nach Spanien zurückkehrte. Eigentlich aber spannend, der Bogen, den Goytisolo schlägt von Cervantes bis Döblin und sogar Uwe Johnson, den Topos „Stadt“ in der Geschichte des Romans als Gattung verfolgend. Auch in der Stadt stellvertretend für die Literatur, als „Topografie der Typografie“, die Idee der Interkulturalität verwirklicht zu sehen, ist ein Gedanke, den man gern schärfer ausgeführt gehört hätte.

Den Eröffnungsabend beschließen durfte die ukrainische Reggae-Ska-Band „Hunde im Weltall“, die mit dem Lyriker Serhij Zhadan zusammen auftrat. Ein guter Einstieg in den diesjährigen Schwerpunkt des Literaturfestivals: Osteuropa. Das Programm bemüht sich nach Kräften, geografisch und literarisch möglichst viel abzudecken, dazu gibt es zahlreiche politische Podiumsdiskussionen. Große Namen wie die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch, der Russe Vladimir Sorokin oder der Ukrainer Jurij Andruchowytsch sind dabei, doch auch jüngere Stimmen wie die der Lyrikerin Valzyna Mort werden zu hören sein. Die Tschechin Radka Denemarková wird aus ihrem Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“ lesen, der die gewaltsame Vertreibung der Sudetendeutschen thematisiert, und der Russe Sergej Minajew stellt seinen Roman „Seelenkalt“ vor, in dem die neureiche Moskauer Gesellschaft demontiert wird. Neben dem Schwerpunkt gibt es wie immer die Sparte „Literaturen der Welt“, die große literarische Wundertüte mit AutorInnen aus mehreren Kontinenten, und zahlreiche Specials. Der Umfang des Ganzen, wieder einmal, völlig wahnsinnig. Verstörend reichhaltig ist sie, die Welt der Literatur.

KATHARINA GRANZIN

■ Programm unter www.literaturfestival.com