: Im Gaza-Streifen herrscht Anarchie
Versorgung der Menschen wird immer schwieriger. UN warnen vor einer „sozialen Explosion“. Hamas-Sprecher beklagt unbeschreibliches Chaos. Zahlreiche militärische Gruppen sorgen inmitten der israelischen Angriffe für große Unsicherheit
AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL
Die Fatah-nahen Al-Aksa-Brigaden drohen mit Vergeltungsanschlägen für die gezielte Exekution eines ihrer Kommandanten. Fadi Kafisha war, nach Angaben des israelischen Militärs, verantwortlich für die Herstellung zahlreicher Sprengstoffgürtel, die er gewöhnlich mit seinem Namen zeichnete. Er starb gestern bei einem Schusswechsel mit israelischen Soldaten in Nablus. Anhänger der Brigaden kündigten neue Selbstmordattentate an.
Gerade erst hatte der palästinensische Premierminister Ismail Hanijeh die militanten Fraktionen zur Waffenruhe aufgerufen, da flogen wieder Kassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen in Richtung Israel. Schon vor einigen Tagen hatte Regierungssprecher Ghazi Hamad in einem Beitrag für die palästinensische Tageszeitung al-Quds Kritik an der fortgesetzten Gewalt geübt. „Inmitten der anhaltenden Anarchie und Korruption ist der Widerstand bedeutungslos“, schrieb Hamad. Jedes Mal, wenn sich die Palästinenser mit Israel „über die Öffnung eines Grenzübergangs einig sind, tauchen Militante auf und schießen absichtlich Raketen ab“. So entstehe der Eindruck, als ob sich die Palästinenser „die Besatzung zurückwünschten“. Im Gaza-Streifen herrsche ein „unbeschreibliches Chaos mit phlegmatischen Polizeibeamten und bewaffnet herumstolzierenden jungen Männern“.
In diesem Chaos tummeln sich die sich bekriegenden Banden. Ein lokaler Anführer des „Volkswiderstandskomitees“ wurde erst gestern Opfer eines Mordanschlags unbekannter Täter. Das „Volkswiderstandskomitee“ ist eine von drei Gruppen, die die Verantwortung für die Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit reklamieren, der seit Mitte Juni vermisst wird. Die israelischen Truppen sind seither sporadisch in den Gaza-Streifen einmarschiert. Gestern zogen sie nach sechstägiger Invasion, bei der 19 Palästinenser ums Leben kamen, vorerst wieder zurück. Noch am Vortag war ein 14-jähriger Junge durch einen Kopfschuss getötet worden.
Israel riegelt wegen der Sorge, dass Schalit ins Ausland geschmuggelt werden könne, die Grenzübergänge ab. Waren- und Nahrungsmitteltransporte sind meist nur für wenige Stunden am Tag möglich. Der UN-Koordinator Jan Egeland warnte diese Woche in New York vor der „Zeitbombe Gaza“. Man könne nicht ein Gebiet abriegeln, das größer ist als Stockholm und 1,4 Millionen Einwohner hat“, meinte er. Die Situation sei „absolut unhaltbar“, es drohe eine „soziale Explosion“.
Die marode Wirtschaftslage führte diese Woche zu heftigen Demonstrationen für mehr Arbeitsplätze. Organisiert wurde der Protest, bei dem Demonstranten das Parlamentsgebäude zu stürmen versuchten, von der Fatah-nahen Arbeiterunion. Auch im Westjordanland kam es diese Woche zu Protesten und Streiks aufgrund der seit März ausstehenden Gehälter der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst.
Eine Wiederaufnahme der Zahlungen könnte möglich werden, sollten die derzeitigen Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung unter Beteiligung aller Fraktionen gelingen. Es wäre eine „wirklich positive Entwicklung“, so meinte UN-Generalsekretär Kofi Annan im Verlauf seiner Beratungen mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas am Mittwoch, „wenn sich die Palästinenser auf ein gemeinsames, realistisches Programm einigen können und dadurch die Sicherheitslage unter Kontrolle gebracht wird“.
Abbas hofft, dass die geplante Regierung der Nationalen Einheit in der Lage sein wird, „die internationalen und regionalen Beziehungen wiederherzustellen“. Problematisch für eine Einigung ist die Vergabe der Ministerposten sowie das Regierungsprogramm. Die Hamas besteht darauf, den Posten des Premierministers zu besetzen und die restlichen Ministerposten in Proportion zum parlamentarischen Kräfteverhältnis zu verteilen. Das ist der Fatah zu wenig.