: Götter auf Besuch
AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL
Plötzlich stehen zwei gefährlich aussehende schwarze Männer auf. „Du dummer stinkender Nigger“, schreit der eine von der Tribüne aus auf das nur drei Meter entfernte Spielfeld. Dort hat der Spieler Namens „The Wire“ – ein kolossaler 2-Meter-Athlet – gerade den Korb verfehlt. „Die Verteidiger sind alle fünf Zentimeter kleiner als du, du Penner“, fügt sein Begleiter an, der wie der erste Großsprecher eine dicke Goldkette um den Hals, riesige Brillanten im Ohr sowie eine dunkle Gucci-Sonnenbrille unter seiner schief sitzenden Baseballmütze trägt. Die Menge der 2.500 Zuschauer rund um das Basketballfeld des Holocombe Rucker Playground an der 155. Straße, mitten in einer Plattenbausiedlung im ärmsten Teil von Harlem, johlt zustimmend, und man hat einen Augenblick lang Angst um „The Wire“.
Doch der Spieler weiß sich zu wehren. „Um dich kümmere ich mich später“, ruft er zurück. Dann packt er sich den Ball, windet sich artistisch durch die Verteidigungslinien der gegnerischen Mannschaft und stopft unter lautem Getose von den Rängen den Ball mit einer martialischen Geste in den Korb. „Das ist mein Boy Boy“, jubelt MC Hannibal, der Rapper mit dem diamantenbesetzten iPod um den Hals. Er macht die Ansagen am Rucker und tänzelt mit seinem Mikrofon mitten auf dem Spielfeld zwischen den Spielern herum. Dann dreht Hannibal die Anlage auf, und aus den Boxentürmen dröhnt ein altes Isaac-Hayes-Stück aus den 70er-Jahren. Auf der Tribüne steht eine Frau mit einem riesigen Afrohaarschnitt und einem hautengen roten Retro-Hosenanzug auf und wirft ekstatisch zum Rhythmus die Arme in die Luft.
Zwischen Mitte Juli und Mitte September geht es jeden Abend so zu auf dem „Rucker“ – dem legendärsten der hunderten von städtischen Basketballfeldern von New York. Jeder dieser Playgrounds, die auf der Straße Namen tragen wie „The Hole“, „The Garden“ oder „The Cage“, hat ein Sommerturnier, organisiert von irgendeinem Basketballverrückten aus der Nachbarschaft. Aber keines ist wie das Rucker. Das Rucker ist das Berühmteste und Beste, die Weltmeisterschaft des wilden Straßenbasketballs.
Teil der Rucker-Aura ist, dass der Rucker-Platz – eigentlich nicht mehr als ein trostloser Betonspielplatz in einer monströsen Sozialbausiedlung – eben in Harlem liegt. Harlem ist seit jeher der Inbegriff des schwarzen Ghettos, und Basketball ist nach Ansicht der Puristen dieses Sports eben vor allem ein Ghettosport. Ein schwarzer Ghettosport. Vor 50 Jahren organisierte der Schullehrer Holocombe Rucker hier für die Ghettokinder ein Turnier, um sie von Drogen und Kriminalität abzuhalten. Ghettokinder von der Straße zu holen, ist der ursprüngliche, eigentliche Sinn des Spiels, und deshalb hat der Basketballsport hier – zwischen einem Wohnheim für Obdachlose und dem sechsspurigen Highway entlang dem Harlem River – seine Wiege und seine Heimat.
Auf dem Rucker ist die Verbindung von Basketball und der Straße so lebendig wie nirgendwo sonst. In der Profiliga NBA wird immer mehr alles, was nach schwarzer Straßenkultur aussieht, verboten und verdrängt – die übergroßen „Baggy“-Sporthosen wurden auf Knielänge gekürzt, und die Profis dürfen seit ein paar Monaten nur noch im Anzug zu den Spielen erscheinen. Goldketten und Strafgefangenenhosen sind unerwünscht. Auf dem Rucker macht die schwarze Subkultur jedoch ihren Anspruch geltend, dass dieser Sport noch immer ihr gehört.
So ist das Rucker-Turnier durch und durch eine Hiphopveranstaltung. Groß prangen an dem Maschendrahtzaun rund um den Platz Transparente von Plattenlabels wie Def Jam. Der Organisator des Rucker, Greg Marius, ist selbst ehemaliger Rapper. Und viele der Teams – Auswahlmannschaften der besten Spielplätze der Stadt – werden von Rappern geführt. So etwa das Star-Team des Abends, die X-Men, die Fat Joe gehören. Fat Joe bezahlt den Jungs ein Handgeld und die Trikots und steht dafür jeden Abend beim beliebtesten Event von Harlem im Rampenlicht – ein Deal, der für alle Seiten passt.
Bevor sich Fat Joe auf die für seine X-Men reservierten Stühle setzt, schlurft der pausbäckige kleine Mann in seinem schlafrocklangen T-Shirt einmal um den Platz und grüßt die johlenden Fans. Sie feiern ihn heute besonders, weil er einen speziellen Freund mitgebracht hat. Für Fat Joes Team spielt heute Abend Ron Artest, einer der besten Verteidiger der Profiliga NBA. Joe und Ron sind zusammen in Queensbridge, dem schlimmsten Viertel des New Yorker Stadtteils Queens, aufgewachsen, sie nehmen zusammen Hiphop-Platten auf, und deshalb tut Ron Joe den Gefallen, hier zu spielen. Außerdem, sagt der 2,10-Meter-Riese mit dem freundlichen Grinsen, spiele er gerne auf dem Rucker: „Das ist in der Nachsaison das beste Training, das man sich vorstellen kann. Und es ist eine Rückkehr zu den Wurzeln.“
Auch das ist Teil des Rucker-Mythos. Es kann jeden Abend passieren, dass ein Top-Profi plötzlich auftaucht und mitspielt. Es gilt als eine Ehre unter den Multimillionen-Dollar-Stars, dem Rucker die Reverenz zu erweisen; zu zeigen, dass man nicht vergessen hat, woher man kommt; dass man sich nicht zu gut dafür ist, auf einem Spielplatz im Ghetto, wo kein Eintritt verlangt wird, für die Leute zu spielen, die sich Karten für ein NBA-Spiel nicht leisten können; dass man sich nicht davor scheut, ohne Bodyguards vor die Leute zu treten und ungeduscht wieder nach Hause fahren zu müssen, weil es hier keine Kabinen gibt, sondern nur die Straße; dass man sich nicht zu gut dafür ist, gegen alternde Ex-Stars und aufstrebende Teenager zu spielen.
Artest spielt jeden Sommer hier, und er fügt sich in die Umgebung ein, als hätte er nie das Ghetto verlassen. Wenn man nicht wüsste, wer er ist, würde nichts auf seine Anwesenheit hinweisen. Keine Autogrammkartenjäger, keine Bodyguards, keine Sonderbehandlung durch den Veranstalter oder den Sprecher. Nur einmal fordert MC Hannibal die Leute auf, Artest „etwas Liebe“ zu zeigen, weil er schließlich „nicht bei uns spielen muss“.
Trotzdem braust kein übermäßiger Applaus auf. Die Fans behandeln Artest auch nicht anders als die anderen Spieler, doch dass sie ihn nicht belagern, bedeutet nicht, dass sie ihn nicht bewundern. Es ist vielmehr eine Form des Respekts. Sie wissen, dass die Stars, wenn sie hierherkommen, eben einmal keine Stars sein wollen. Artest genießt es sichtlich spät am Abend, nach dem Spiel, in Jeans-Shorts und mit freiem Oberkörper mit seinen Mannschaftskameraden auf einer Parkbank am schwarz durch die Nacht rollenden Harlem River zu sitzen und herumzualbern. Für einen Abend darf er wieder zu dem werden, der er war, bevor er ein Star wurde, zu irgendeinem schwarzen Jungen, der auf der Straße Basketball spielt. Und der irgendwann einmal Profi werden will.
Und das wollen sie alle. „The Wire“ etwa, der zivil Keith West heißt und wie Ron Artest aus Queensbridge kommt. 26 Jahre alt ist West, er spielt in der Amateurliga ABA, wenn er nicht auf der Straße spielt. Einen zivilen Job hat er nicht, er konzentriert sich auf das Basketball und „jagt dem Traum“ vom NBA-Vertrag nach, wie er mit strahlenden Augen sagt, als er nach gewonnenem Spiel am Zaun zwischen Spielfeld und Kinderkarrussell lehnt.
Ron Nacleiro findet hingegen, dass The Wire sich lieber einen anderen Traum suchen sollte. Der kleine glatzköpfige weiße Mann ist schon seit Jahrzehnten Basketballtrainer an städtischen Schulen und betreut am Rucker ab und zu die eine oder andere Mannschaft. Nacleiro hat Generationen von Jungs wie The Wire gesehen, die ewig darauf warten, dass ein NBA-Talentscout vorbeikommt . Und die dabei die Gelegenheit verpassen, etwas anderes zu werden als ein gescheiterter Basketballspieler; etwas anderes als einer, der ewig über die New Yorker Playgrounds tingelt.
In seinem Buch „The Last Shot“ hat der New Yorker Journalist Darcy Frey bedrückend dokumentiert, wie der trügerische Traum vom NBA-Vertrag in den schwarzen Ghettos die Leben junger Männer zerstört. Von 500.000 Jugendlichen bekommen weniger als ein Prozent ein Basketballstipendium für das College. Das wiederum ist die Voraussetzung für einen Profivertrag. Karrieren wie die von Ron Artest sind eher ein Wunder als ein realistisches Ziel. Und trotzdem jagen die männlichen Jugendlichen auf den Spielplätzen von New York lieber diesem Traum nach, als sich um eine Ausbildung zu kümmern. Der trügerische Mythos, dass Basketball der einzige Ausweg aus dem Ghetto ist, hält sich aller gegenteiligen Evidenz zum Trotz hartnäckig. In der Regel ist Basketball jedoch der sicherste Weg, dem Ghetto nie zu entkommen.
Mittlerweile brennen in den Hochhäusern rund um den Rucker überall die Lichter, und die Menschen blicken aus ihren Wohnungsfenstern auf das Flutlicht-erleuchtete Spielfeld. Dort stürmen Ron Artest und Spieler mit Straßennamen wie „The Mutant“ oder „Lumberjack“ den Asphalt hoch und runter und zeigen der aufgepeitschten Masse jenes freie, schnelle und artistische Spiel, das den anarchischen Playgroundbasketball von etablierteren Wettbewerben unterscheidet.
MC Hannibal hat seinen Flow gefunden, hüpft zwischen den Spielern hin und her und rappt immer schneller und immer lauter seine Moderation in das Mikro. „Achtet nicht auf den Spielstand“, schreit er die Menge an. Es geht hier nicht ums Gewinnen, sondern nur um das Spiel.“ Artest schießt einen Pass über 15 Meter durch die Harlemer Nacht, und einer seiner Mitspieler, den sie „Windmill“ nennen, pflückt ihn aus der Luft und versenkt ihn kraftvoll im Netz. Ein Aufschrei der Begeisterung bricht aus 2.500 Kehlen und hallt beinahe eine Minute lang von den kahlen Wänden der „Polo-Ground“-Sozialbausiedlung zurück, die den Spielplatz umringen wie eine Gefängnismauer.