: „Leistung wird mit Gemeinwohl verknüpft“
Der Sozialwissenschaftler Berthold Vogel findet Becks Initiative gut, denn sie richte die Blicke auf die Richtigen: „Ich finde, dass eine Krankenschwester und eine Kindergärtnerin mehr für die Gemeinschaft tun als ein Fondsmanager“
taz: Herr Vogel, sind Sie ein Leistungsträger?
Berthold Vogel: Ich bemühe mich.
Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck lobt die „Leistungsträger“, und gemeint seien etwa erfolgreiche Facharbeiter, Angestellte, Selbständige und Ingenieure – wer fehlt da in der Aufzählung?
Beck will wohl zunächst einmal nur einen Hinweis geben auf die Vielfalt in der gesellschaftlichen Mitte und die Vielfalt derjenigen, die sich in irgendeiner Form produktiv an der Gesellschaft beteiligen. Die Auswahl, die er traf, ist ja im Grunde genommen ein Versuch, die Mittelschicht zu umschreiben.
Wie viel Prozent der Gesellschaft sind diese Mitte?
Das ist auch eine Streitfrage. Aber ich denke schon, dass wir in einer sehr mittelschichtsdominierten Gesellschaft leben. Dazu kann man 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung rechnen. Daneben eine Oberschicht, die wohl etwa 10 Prozent umfasst. Und schließlich noch 20 Prozent einer sozialen Unterschicht von Leuten, die in einer Art Niemandsland von Arbeitslosigkeit und Gelegenheitsjob leben.
Überspitzt formuliert: Ab wie viel Netto-Einkommen im Monat ist man dann ein Leistungsträger?
Naja, als Leistungsträgerin würde ich ja auch eine Kindergärtnerin oder Krankenschwester definieren – das heißt, wir müssten dann ziemlich weit unten anfangen. Die gesellschaftliche Optik ist natürlich diejenige: Ab 3.000 netto geht das los mit den Leistungsträgern. Aber das ist eine falsche Perspektive. Und das ist auch das Gute an der Intervention von Kurt Beck, dass er im Grunde genau diese Gruppe im Blick hat. Ich finde auch, dass eine Krankenschwester, eine Kindergärtnerin oder eine Lehrerin mehr für die Gemeinschaft tun als ein Fondsmanager. Was ich an dieser Debatte gut finde, ist, dass durch sie Leistung mit Gemeinwohl verknüpft wird.
Sind die Leistungsträger von Beck etwas anderes als die „neue Mitte“, von der Exkanzler Gerhard Schröder früher sprach?
Im Grunde genommen nein. Es ist ja sowieso so, dass sich die Parteien in der Bundesrepublik immer auf die Mitte konzentriert haben – seit dem Godesberger Programm 1958 auch die SPD. Bei Schröder war es Ende der 90er-Jahre mit der „neuen Mitte“ der Versuch, das SPD-Spektrum etwas weiter zu definieren. Was jetzt in der SPD und auch in anderen Parteien wahrgenommen wird, dass die soziale Mitte in ihrer beruflichen, sozialen und materiellen Existenz stärker durch die wirtschaftlichen Entwicklungen attackiert wird als noch in den 90er-Jahren. Beck und Schröder zielen also auf eine ähnliche Gruppe, aber die Motivation ist heute eine andere.
Es ist demnach mehr als ein Schlagwort?
Ja, in dieser Debatte kommt zum Ausdruck, dass die Grenze unklarer geworden ist zwischen denen, die rausgefallen sind, die arbeitslos und ausgeschlossen sind, und denen, die noch drin sind und noch materielle Grundlagen haben. Es gibt auch Abstiegsängste in der Mittelschicht – darauf zielt die Debatte. Und es geht zudem um die Gerechtigkeitsfrage: Was kriegt etwa eine Krankenschwester – und welche Leistung bringt sie für die Gesellschaft? Ist diese geringe Entlohnung gerecht, oder müsste man sie nicht auch materiell aufwerten?
Hartz-IV-Empfänger sind per se keine Leistungsträger, oder?
Das ist die Frage. Sie sind zunächst einmal diejenigen, die drohen aus der Gesellschaft rauszufallen und denen es schwer fällt, eine bestimmte Leistung für die Gesellschaft zu erbringen. Von der Motivation sind einige dabei, die mal Leistungsträger waren. Zu den Hartz-IV-Empfängern gehören heute viele, die früher eine gefestigte berufliche Position hatten, aber rausgerutscht sind. Aber auf diese Klientel zielt nicht die Debatte, das ist klar.
Gleichzeitig kritisiert Beck scharf die angeblichen Betrüger bei Hartz IV. Das sieht doch schon danach aus, dass sich die SPD von der Unterschicht der Armen und Bildungslosen verabschiedet, oder?
Das wäre eine negative Entwicklung, wenn eine Politik des Ressentiments dabei herauskäme: Wenn man also die Abstiegsängste der Mittelschicht und die realen Abstiegserfahrungen derjenigen, die arbeitslos geworden sind und nur noch Gelegenheitsjobs haben, gegeneinander ausspielte.
Hat die SPD sich in den vergangenen Jahren zu wenig um die Mitte der Gesellschaft gekümmert?
Bestimmte soziale Sorgen, materielle Ängste und kulturelle Befürchtungen haben sich in der Mittelschicht neu eingestellt. In der Soziologie nennt man das den „prekären Wohlstand“. Das hat man von Seiten der Parteien lange Zeit nicht wirklich zur Kenntnis genommen.
Beck reagiert also auch auf die Ängste der Mittelschicht vor dem Abrutschen?
Ja, es ist auch richtig, dies politisch zum Thema zu machen. Denn es ist fast so etwas wie ein soziologisches Gesetz, dass sich Abstiegsängste stets negativ auf das demokratische Klima einer Gesellschaft auswirken.
INTERVIEW: PHILIPP GESSLER