Hochenergetisches Erlebnis

Andre Agassi quält sich in der zweiten Runde der US Open zu einem Fünf-Satz-Erfolg über Marcos Baghdatis. In der nächsten Runde trifft er auf Benjamin Becker, den nicht mehr ganz jungen Newcomer aus Deutschland

NEW YORK taz ■ Manchmal kommt man auf merkwürdige Gedanken beim Versuch, nach ein paar völlig verrückten Stunden wieder halbwegs neutralen Boden zu betreten. Dies ist so ein Gedanke: Wäre das donnernde Drama in fünf Sätzen, das Andre Agassi in der Nacht zum Freitag beim Sieg gegen Marcos Baghdatis erlebte, nicht ein wunderbarer letzter Akt seiner schillernden Karriere gewesen? Kann es wirklich noch besser werden? Fast vier Stunden am Rande des Wahnsinns; mit den Wechselströmen dieses Spiels hätte man einen ganzen Stadtteil einen Abend lang beleuchten können. Das Ergebnis: 6:4, 6:4, 3:6, 5:7, 7:5. Das Erlebnis: unbezahlbar.

Den Anteil von Marcos Baghdatis, der ganz allein gegen Agassi und 23.000 Zuschauer spielte, kann man nicht hoch genug preisen. Wie er sich aus der anfänglichen Befangenheit befreite, wie er immer mutiger wurde und sich selbst von einem 0:4-Rückstand im vierten Satz nicht unterkriegen ließ, wie er sich schließlich gegen eine Welle von Krämpfen wehrte und es schaffte, das Ende des Spiels stehend zu erleben, das imponierte ungemein. Selbst unter Schmerzen lachte er noch, und immer wieder schlug sich mit der Faust auf die Brust, um zu zeigen: Da ist mein Herz, und es ist stark. Auch Agassi war schwer angetan. „Er ist einer, der es dir leichter macht zu gehen, denn du siehst, dass das Spiel bei ihm in guten Händen ist.“

Auf gute Hände ist er selbst mehr denn je angewiesen. Am Morgen nach dem ersten Spiel gegen Andrei Pavel hatte er kaum stehen können; der Ischiasnerv hatte sich wieder entzündet. Bis dahin hatte er sich noch nie während eines Turniers eine Cortison-Spitze geben lassen, diesmal sah er keine andere Möglichkeit. Die Spritze wirkte, wie immer, im Spiel gegen Baghdatis ging es ihm gut.

Doch mit einer Form der Stabilität kann er schon lange nicht mehr rechnen, und ob der lädierte Rücken die Belastungen eines weiteren harten Spiels hingenommen hat, das wird man wohl erst heute sehen. Aber so gut er sich fühlt, wenn ihn die Leute feiern, bejubeln und grenzenlos bewundern, bezahlt er doch mit Schmerzen dafür. Fragt er sich, ob es das wert ist? „Ja und nein“, sagt Agassi, „Das ist es wert, und ich frage mich nicht. Genau das ist es, was ich haben will.“

Er hat die Angst überwunden, in der ersten Runde zu scheitern. Er hat die Schmerzen überwunden und ein zweites Mal gewonnen, und nun kommt der große Unbekannte mit den seltsam vertrauten Initialen. Was sich die Götter des Tennis wohl dabei gedacht haben, die Namen A. Agassi und B. Becker noch mal auf die Anzeigetafeln zu schreiben? Gegen den ersten B. Becker hatte Agassi eine Bilanz von 10:4, gegen den zweiten steht es 0:0. Bei einem Besuch vor zwei Jahren bei den US Open hatte Benjamin Becker, 25, die Spiele der Qualifikation verfolgt und gedacht: Mensch, wenn ich da auch mal mitspielen könnte. Nun hat er quasi aus heiterem Himmel im Arthur-Ashe-Stadion eine Verabredung mit Andre Agassi. Wäre Becker ein Frischling, jung und ahnungslos, dann müsste man sich sicher Sorgen machen, wie er diese Beschleunigung von null auf hundert überstehen wird. Doch Benjamin Becker sagt, wenn man vier Jahre lang in einem fremden Land auf dem College auf sich allein gestellt sei, dann lerne man, sich durchzubeißen; das sei fürs Selbstbewusstsein gut.

Was er meint, sah man beim überzeugenden Sieg gegen Sébastien Grosjean. Überlegt und scheinbar ohne Nervosität nutzte er die Chance gegen den müden Franzosen, dem ein hartes Fünf-Satz-Spiel vom Tag zuvor in den Beinen steckte. Bisher war er es gewohnt, im Tennis vor allem wegen seines Namens zur Kenntnis genommen zu werden. Aber er ist auf dem besten Weg, eine eigene Geschichte zu schreiben, und er tut das auf eine Art, die dem deutschen Tennis gut tut. Der Franzose Tarik Benhabiles, einst Coach von Andy Roddick, gehört zu Beckers Trainerteam, und der ist des Lobes voll. „Er ist eine große, große Hoffnung. Er hat Mut, er ist intelligent und er hat angenehme Umgangsformen. Vielleicht sollten wir den jungen Spielern verbieten, dass sie Profis werden, bevor sie 20 sind.“ Das meint er natürlich nicht ganz ernst, aber eines ist klar: Ohne den Umweg über das College wäre Benjamin Becker wohl nur als Zuschauer bei Andre Agassi im Arthur-Ashe-Stadion gelandet. DORIS HENKEL