: Hochhaus statt Jugendhilfe
Ein Jugendlicher aus der Feuerbergstraße wurde nachts vom Kinder und Jugendnotdienst abgewiesen und per Taxi nach Brandenburg gefahren. Inzwischen lebt er wieder in Hamburg
von Kaija Kutter
Der Jugendliche M., der im April in Begleitung der taz nach vierwöchiger Flucht freiwillig in das geschlossene Heim in der Feuerbergstraße zurückgekehrt war, hat in der Zwischenzeit eine anstrengende Odyssee hinter sich gebracht. Heute lebt er allein in einer kleinen Wohnung in einem Jenfelder Hochhaus. Unverantwortlich, meint ein Sozialarbeiter aus Wilhelmsburg, der ihn von klein auf kennt und auch wieder in seiner Wilhelmsburger Jugendwohnung aufnehmen würde, wenn man ihn ließe.
M. ist einer der beiden Jugendlichen, die im Sommer für 2.700 Euro per Taxi in eine Jugendeinrichtung nach Brandenburg gefahren wurden. Darüber gab es Aufregung in den Medien. Doch der Fall, so erklärte gestern die GAL-Abgeordnete Christiane Blömeke, „birgt wesentlich mehr Brisanz, als die Kosten der Taxifahrt“. So habe der Junge am Abend des 28. Juni gegen 18 Uhr um Aufnahme beim „Kinder und Jugendnotdienst“ gebeten. Dort sei er aber weggeschickt worden, auf direkte Weisung des „Familieninterventionsteams“, das für schwierige Jugendliche eine Art stadtweite Sonderzuständigkeit hat.
Sozialbehörden-Staatsrat Dietrich Wersich wurde am Wochenende im Abendblatt mit der Äußerung zitiert, die Taxifahrt sei die einzige Alternative gewesen, weil der Junge untergetaucht und mitten in der Nacht aufgegriffen worden sei. Für Blömeke eine „falsche Darstellung“, die sie in einer Sondersitzung des Jugendausschusses klären will. Nach ihren Information war der Junge keineswegs untergetaucht und hatte sich aus freien Stücken beim Ohlsdorfer Kindernotdienst gemeldet.
Als die taz im April vor der Tür der Feuerbergstraße mit dem Jungen sprach, hatte er Pläne. Die Monate, die er laut Gerichtsbeschluss noch in dem geschlossenen Heim bleiben musste, wollte er für eine Berufsvorbereitung bei der Bürgerinitiative Wilhelmsburg nutzen. Behördensprecherin Katja Havemeister sagte seinerzeit, es werde „in Gesprächen mit allen Beteiligten geprüft“, um was für eine Maßnahme es sich handle. Ausgeschlossen sei es nicht, dass daraus etwas werde.
Doch nach Informationen der GAL wurde auf die Wünsche des Jungen nicht eingegangen. Er wurde erneut isoliert und sogar für mehrere Tage in die Psychiatrie des Eilbeker Krankenhauses gebracht, wo er Psychopharmaka erhielt. Zurück in der Feuerbergstraße wurden ihm diese Medikamente weiterhin verabreicht. Als er schließlich aus der Feuerbergstraße entlassen und in die Jugendhilfeeinrichtung im Brandenburgischen Frostenwalde überführt wurde, musste er laut Blömeke einen Medikamentenentzug durchmachen, der „anderthalb Wochen dauerte“.
Für die Grüne war schon die Einweisung des Jungen im Sommer 2005 in die Feuerbergstraße höchst fragwürdig. Attestierte ihm doch ein Gutachten des Jugendpsychiatrischen Dienstes, dass eine große Gefahr der „Fremd und Selbstverletzung“ gegeben sei, wenn man ihn einsperre. Auch wohnte er zu jenem Zeitpunkt noch in der Wilhelmsburger Jugendwohnung, wo er nach Aussage des Betreuers keine Auffälligkeiten zeigte. Doch ein kleinerer Ladendiebstahl im Juni 2005 brachte das Familien-Interventionsteam auf den Plan, das zunächst die Einweisung in eine andere Wohngruppe und dann in die Feuerbergstraße durchsetzte.
Die „Planlosigkeit auf Kosten der Jugendlichen“ setzte sich laut Blömeke fort, als der Junge seine Zeit in der Feuerbergstraße endlich abgesessen hatte. Statt ihn nun wieder in seine Wilhelmsburger Jugend-WG zu lassen, wo er sich wohl fühlte, schickte man ihn fast an die polnische Grenze nach Frostenwalde, in ein Heim zur U-Haft-Vermeidung. Wegen eines Gerichtstermins kamen die dortigen Betreuer am 28. Juni mit ihn nach Hamburg. Während der Verhandlung erklärte der Junge, er wolle keinesfalls zurück, weil er in Frostenwalde nicht zur Schule gehen könne und sich unter den Jugendlichen nicht wohl fühle. Er äußerte die Angst, er könnte dort eine Straftat begehen.
In dieser Lage wandte er sich an den Kindernotdienst. Nachdem er abgewiesen worden war, verweilte er eine Zeit lang draußen vor der Tür, bevor die nächtliche Taxifahrt begann. „Man hätte den Jungen beim Kindernotdienst schlafen lassen sollen“, sagt Blömeke. „Dann wäre am nächsten Morgen eine durchdachte Lösung möglich gewesen.“ Nach Aussagen des Wilhelmsburger Sozialarbeiters, bei dem gegen 22 Uhr noch eine Tasche abgeholt wurde, bevor es an die polnische Grenze ging, kam der Junge freiwillig mit. Man hatte ihm allerdings vorher mit U-Haft gedroht, obwohl es zu diesem Zeitpunkt kein offenes Verfahren mehr gab.