: Hundert Spuren Hundegebell
SOUND-DESIGN Das richtig platzierte Geräusch erzeugt den Effekt der Realität: Die Kölner Tagung „Töne hören – Bilder sehen“ widmete sich dem Ton im Dokumentarfilm, der bisher kaum kritisch beachtet wird
Traditionell wird im Diskurs über die audiovisuellen Künste die Dominanz des Visuellen als Norm gesetzt. Besonders betrifft das den Dokumentarfilm, selbst die Debatten über digitale Manipulationen oder Reenactment etwa machen sich an der Bildebene fest. Wenn der Ton ins Gespräch kommt, geht es meist entweder um die Musik oder das gesprochene Wort als Talking Heads, Dialog oder Kommentar.
Weitgehend unreflektiert bleiben Geräusche und Hintergrund-Atmo, die als natürlich gegeben hingenommen werden. Das ist erstaunlich und falsch, ist doch genau hier der Ort, wo – jedenfalls beim sogenannten beobachtenden Dokumentarfilm – die Grundlage für die Herstellung der Authentizitätsbehauptungen gelegt wird, die seit den 1960er Jahren als Paradigma gelten. Es ist die suggestive Einheit des Tons, die aus der Fragmentierung der visuellen Montage die Kontinuität des Erzählflusses herstellt, es sind die richtig platzierten Geräusche, die den Realitätseffekt erzeugen.
Echtes Abbild sind diese Töne aber fast nie, selbst in authentisch scheinenden Filmen kommen Sturm und Vogelgezwitscher aus der Konserve oder wurden technisch aufgedonnert. So ist seit Flahertys „Men of Aran“ 1935 nicht das Bild, sondern der Ton der Ort, wo beim Herumwerkeln mit Effekten filmische Wahrheiten produziert wurden. Heute wird wegen der starken Umwelt- und Verkehrsgeräusche fast generell nur noch Sprache mit Richtmikrofon synchron aufgezeichnet, zusätzlich zu einer Leeratmo, der Rest kommt in der Postproduktion dazu.
Konträr zur diskursiven Dominanz des Visuellen ist in der Kinopraxis der letzten Jahrzehnte aber auch im Dokumentarfilm eine offensichtliche Stärkung des Auditiven zu verzeichnen, die mit der tontechnischen Aufrüstung der Kinos und der vereinfachten Bearbeitung unzähliger paralleler Tonspuren durch die Digitaltechnik einhergeht: Anlass für die Dokumentarfilminitiative NRW, sich auf einem Symposium in Köln mit den „aktuellen Tendenzen der akustischen Dimension des Dokumentarischen“ zu befassen. Unter dem Titel „Töne sehen – Bilder hören“ gab es Praxisberichte, Filmbeispiele und einen empirischen Ausflug in die technischen Feinheiten audiovisueller Asynchronität. Der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser hielt einen Vortrag, der die wachsende Bedeutung des akustischen Primats seit den 80er Jahren unter anderem als Akt körperlicher Selbstvergewisserung gegenüber der „unheimlichen Abstraktion des Digitalen“ begründete. Das ist nur scheinbar paradox: Auch der Walkman war ja schon ein Versuch, der zunehmenden Lärmverschmutzung per autistischer Selbstbeschallung Einhalt zu gebieten.
Ein weiterer selbst generierter Motor akustischer Aufrüstung dürfte – das wurde bei Gesprächen und Filmbeispielen klar – auch die Allgegenwart von Sounddesignern in den Postproduktionsteams sein, einem Stand, der von beruflicher Natur aus zur Expansion seines Tätigkeitsfeldes tendiert. Es ist eine reine Wirkungsästhetik, die sich auf die Produktion emotionaler Effekte spezialisiert. So wurde der Sound der (animierten) jagenden Hundemeute am Anfang von Ari Folmans „Waltz with Bashir“ aus über hundert Spuren Hundegebell und anderen Soundeffekten geschichtet. Mit seiner behutsam eingesetzten tönernen Wirkungsmacht ist dieser Film ein positives Beispiel dafür, wie sich mit artifiziell erzeugtem Sounddesign filmische Wirkung erzeugen lässt.
Von notwendiger Zurückhaltung sprachen eigentlich alle anwesenden Praktiker. Doch die wenigsten der aktuellen Produktionen sind bereit, das „Weniger ist mehr“ auch adäquat in entsprechende Praxis umzusetzen. Vermutlich haben hier die Marketingabteilungen ein Wörtchen mitzureden.
Die Vision eines Wandels vom alten zweidimensionalen Bilderkino zu einem vielspurig miteinander kommunizierenden Surroundsound als narrativer Grundlage der Montage, wie es Elsaesser als These für die Zukunft postulierte, ist für den Dokumentarfilm hoffentlich mehr wissenschaftliche Sensationsmache als Prognose. Erstmal wäre ganz im Gegenteil mehr Distanz angebracht: Da wäre schon viel gewonnen, wenn der auditive Bereich stärker in die kritische und theoretische Aufmerksamkeit einfließen würde. Und auch in die Ausbildung an deutschen Filmhochschulen, wo es bisher nur an der HFF Babelsberg Professuren für Tongestaltung gibt.
SILVIA HALLENSLEBEN