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Archiv-Artikel

Rechnen, bis es passt

STATISTIK Die Regelsätze für das Existenzminimum waren immer politischer Willkür ausgesetzt. Das war früher bei der Festlegung der Sozialhilfe auch so

BERLIN taz | „Verfassungswidrig“ sei die neue Berechnung der Regelsätze, rügt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Wenn nämlich die Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger künftig mit der Preis- und Lohnentwicklung stiegen, genüge dies „nicht dem Gebot der Bedarfsorientierung“, sagte Schneider. Er verwies dabei auf den wachsenden Niedriglohnsektor.

Schneider ist Sozialprofi. In seinem aktuellen Buch „Armes Deutschland“ (Westend Verlag) zeichnet er nach, wie bei der Berechnung des Existenzminimums schon in der Sozialhilfe in früheren Jahren getrickst wurde. In den 60er und 70er Jahren wurden die Regelsätze der Sozialhilfe nach dem „Warenkorbmodell“ festgelegt, schildert Schneider. Dazu setzten sich Wohlfahrtsverbände und Kommunen im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge an einen Tisch und stellten einen „Warenkorb“ zusammen. Dazu gehörten jeden Monat zum Beispiel 60 Gramm Bücklinge, 1/8 Liter Sahne, ein Pfund Butter. Jeden zweiten Tag gab es ein Ei und alle zwei Monate eine Kinokarte. Für nicht alltägliche Ausgaben wie Kühlschrankreparaturen konnte man Anträge auf einmalige Leistungen stellen.

Der Warenkorb war immer schon ein Medienthema. „Schlachten wurden geschlagen etwa zu der Frage, ob man Sozialhilfebeziehern nur den billigen No-name-Streichkäse zugestehen oder auch mal den etwas teureren der Marke Buko gönnen sollte“, schildert Schneider. Als der Deutsche Verein 1981 einen neuen Warenkorb mit zeitgemäßerer Produktpalette vorlegte, der aber die Regelsätze um über 30 Prozent erhöht hätte, wurde die Studie kurzerhand weggeschlossen. Neue Arbeitsgruppen, näher bei der Politik ansässig, rechneten so lange herum, bis der „Warenkorb“ der öffentlichen Hand halbwegs bezahlbar erschien.

Ende der 80er Jahre entwickelten Experten auf Geheiß der Politik das neue „Statistikmodell“ für die Sozialhilfe. Dabei wird der Regelsatz von den Ausgaben des ärmsten Fünftels der Bevölkerung abgeleitet. Der Deutsche Verein legte 1989 vorsichtshalber zwei Ergebnisse vor, eines mit höheren und eines mit niedrigeren Regelsätzen. Die Politik entschied sich erwartungsgemäß für die billigere Variante.

Mit der Entwicklung der Hartz-IV-Gesetze wurden in die monatlichen Regelsätze für das Existenzminimum die früheren „einmaligen Leistungen“ hineingerechnet und sollten damit abgegolten sein, also das Geld etwa für Winterbekleidung oder Kühlschrankreparaturen. 345 Euro war der durchschnittlich gewährte Betrag in der Sozialhilfe, inklusive der umgelegten einmaligen Leistungen. Dieser Hartz-IV-Regelsatz von 345 Euro für den Westen fand sich in den ersten Gesetzesentwürfen.

Im Nachhinein kamen die Sozialstatistiker dann wie durch ein Wunder auf genau diesen Satz für das Arbeitslosengeld II. Sie brauchten nur von den Ausgaben des unteren Fünftels der Bevölkerung entsprechende frei gewählte Abschläge vorzunehmen. Eine „dreiste Trickserei“, sagt Schneider heute. BARBARA DRIBBUSCH