Die Jugend des Auswanderers

LITERATUR Liebe und Verrat sind schon immer Stoff für dramatische Verwicklungen. Erst recht vor dem Hintergrund eines namenlosen afrikanischen Landes, in dem mit Kindern gehandelt wird, wie in „Iman“, dem neuen Roman von Ryad Assani-Razaki

Iman entzieht sich allen, auch durch seine unbändige Sehnsucht, das Land zu verlassen

VON CAROLA EBELING

Wie ist es zu ertragen, dass es möglicherweise dasselbe ist, „ein Kind oder eine Kuh zu verkaufen“? Das fragt sich der junge Toumani, lange nachdem er als Sechsjähriger von seinem Vater an eine Kinderhändlerin verschachert wurde.

Mit dieser Szene beginnt der Roman „Iman“ von Ryad Assani-Razaki, der 1981 in Benin geboren wurde und mit Anfang 20 nach Québec auswanderte. Nach einem bereits preisgekrönten Erzählband erhielt er für „Iman“ 2011 den Robert-Cliche-Preis für das beste Debüt.

Was Toumani widerfährt, geschieht in einem namenlosen afrikanischen Land, es könnte aber gut das Herkunftsland des Autors sein. Der Einstieg führt gleich brutal ein in das Leben seiner Figuren, das von Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit geprägt ist. Und von den Versuchen, dennoch zu überleben, einen Weg zu finden „Mensch zu sein“, sich selbst zu gehören, was eben nicht nur metaphorisch gemeint ist.

Der gespiegelte Blick

Toumani ist eine von fünf Figuren, die Assani-Razaki in seinem Roman, der in etwa die Zeit von Mitte der 1960er- bis in die frühen 2000er-Jahre umfasst, vorstellt und auf verschiedene Weise miteinander verbindet. Er erzählt vom Leben der Einzelnen und ihren sich verknüpfenden Geschichten aus ihren jeweiligen Perspektiven. Der Blick, den sie auf sich selbst und die anderen werfen, wird so vielfach gespiegelt und gebrochen, was einen großen Reiz des Romans ausmacht.

Toumani wird an einen reichen brutalen Alkoholiker weiterverkauft, der ihm seinen Namen nimmt, ihn schlägt – ihn zu seinem willenlosen Besitz macht. Einmal prügelt sein „Papa“ ihn fast tot und entsorgt ihn schwerstverletzt in einem Kanalschacht. Dort wird er gerettet von Iman, jener titelgebenden Figur, um die alle anderen auf ihre je eigene Weise kreisen. Letztlich entzieht sich Iman ihnen allen, auch durch seine unbändige Sehnsucht, das Land zu verlassen, nach Europa zu gehen, um jeden Preis. Und so ist es nur konsequent, dass Iman der einzige ist, der keine eigene Stimme bekommt. Alle Deutungen seiner Person kommen von außen.

Das meiste erfahren wir von Toumani, der ihm innigst verbunden ist – und ihn doch verraten wird. Ein Kapitel gehört Hadscha, der Großmutter Imans; ihr Weg in einer extrem patriarchal geprägten Gesellschaft ist der des islamischen Glaubens. Das Folgende wird aus der Perspektive Zainabs erzählt, Hadschas Tochter und Imans Mutter. Sie begehrt auf, will selbst entscheiden. Die vermeintliche Liebe des viel älteren weißen Europäers George erscheint ihr aber schon schnell „als etwas Zucker auf einem Haufen Scheiße. Ich ekelte mich vor mir selbst. […] Er wollte heimlich mit einem halben Kind schlafen!“

Der verstoßene Sohn, die geächtete Mutter

Noch nicht volljährig, bringt Zainab Iman zur Welt und George verlässt das Land. Von ihrer Selbstbestimmtheit bleibt Zainab als nun gesellschaftlich geächteter Frau nicht viel, eine notwendige Heirat führt schließlich dazu, dass sie Iman verstößt, da ist er 14 Jahr alt.

Und dann ist da noch Alissa. Auch sie ist ein verkauftes Kind und zerrissen zwischen den Anforderungen, die die Tradition an sie als Frau stellt – und ihrer Liebe zu Toumani.

Bei Assani-Razaki scheinen politische Ereignisse und Verhältnisse im Hintergrund nur auf, sie werden aber nicht analysiert. Er ist ein Geschichtenerzähler, der den Fokus auf die persönlichen Schicksale seiner Figuren setzt, in deren Biografien sich aber sehr wohl die Spuren der Kolonialzeit zeigen und sich zum Teil tief in die Selbstbilder eingeschrieben haben.

Die Sprache des Romans ist klar, allzu viele Zwischentöne kennt sie dabei nicht. Sehr komplexe Gefühle und Wahrnehmungen werden oft in einem knappen Aussagesatz zusammengezurrt – doch stört das die längste Zeit nicht, denn die Bildhaftigkeit und das Verfahren der Vielstimmigkeit lassen alles Beschriebene sehr lebendig aufscheinen.

Zum Ende verheddert sich die Handlung allerdings und mit ihr die Figuren, die ihren inneren Wendungen um Liebe und Verrat gar nicht mehr hinterherkommen. Mit Toumani und Iman aber hat der Autor zwei starke Figuren geschaffen, zwei Polen gleich, in denen sich eindringlich das Für und Wider für ein Bleiben im Land oder für eine gefährliche Flucht in ein feindlich gesonnenes Europa spiegeln. Toumani wird bleiben, Iman wird einer jener Flüchtlinge sein, die mit ihren Booten verzweifelt-entschlossen versuchen, die Festung Europa zu erreichen – und sei ihr Leben der Preis dafür.

■ Ryad Assani-Razaki: „Iman“. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Wagenbach, Berlin 2014, 22,90 Euro, 320 Seiten